Ein Bild des Jammers

Warum sollten die Studenten streiken? Allein ihr vollzähliges Erscheinen könnte die Universitäten lahmlegen Die Hochschulen in Colleges entflechten  ■ Bodo von Greiff

„Die Methode des modernen Menschen ist nun einmal die Wissenschaft.“ Ein großes Wort, gesprochen vom Berliner Wissenschaftssenator Manfred Erhardt. Ob er damit recht behält, darf man füglich bezweifeln. Denn was erwartet den „modernen Menschen“, sofern er bildungswillig ist, an den Berliner Universitäten des Wintersemesters 1992/93?

Es ist ein Bild des Jammers. Die Gebäude sind herabgekommen, das Mobiliar zerschlissen, die Hörsäle verschmutzt und voll, das Lehrpersonal gehetzt, die Atmosphäre unfreundlich. Wie einen Studenten darauf vorbereiten? Wie ihm oder ihr erklären, daß der Übergang vom Gymnasium zur Universität heute ein Abstieg ist?

Das gilt ganz gewiß nicht nur für Berlin. „Die Grundausstattung“ der deutschen Hochschulen „ist vielfach auf einem Stand, den man im internationalen Vergleich als katastrophal bezeichnen muß“ (so DFG-Präsident Wolfgang Frühwald). „Aus der idealistischen Utopie der Universität ist heute eine mißgelaunte und mühsam ernährte Institution geworden, in der Uniformität an die Stelle von Universalität getreten ist“, sagt der Philosoph Jürgen Mittelstraß. – Diese ebenso korrekten wie deprimierenden Diagnosen ließen sich beliebig verlängern.

Um die Diagnosen zu verstehen, muß man einige Zahlen kennen: Seit 1977, dem Jahr des sogenannten Öffnungsbeschlusses, stieg die Anzahl der Studenten um 70 Prozent. Im gleichen Zeitraum wuchs das wissenschaftliche Personal um sechs Prozent, so daß sich die Betreuungsrelation massiv verschlechtert hat. Heute studieren in den alten Bundesländern über 1,6 Millionen Studenten auf 810.000 Plätzen. An den großen Berliner Universitäten wird diese absurde Relation korrekt gewahrt: An der FU teilen sich 62.000 Studenten rund 29.000 Plätze (Frühjahr 1992), an der TU waren es 37.000 Studenten auf 21.000 Plätzen, so daß im Schnitt auf einen Studienplatz zwei halb zählende Studenten kommen. Die Studierenden haben faktisch den Status von geistigen Einbeinern.

Entsprechend sind die traurigen Folgen: Die Studiendauer hat sich in den vergangenen zehn Jahren bundesweit um zwei Semester verlängert, sie liegt gegenwärtig bei 14,6 Semestern. Der Durchschnittsstudent ist, sofern er ein Examen macht, 28 Jahre alt, in den Sprach- und Kulturwissenschaften 29 Jahre. Über 50 Prozent aller Studenten sind nebenher erwerbstätig. Nur 20 Prozent der Absolventen schaffen den Abschluß in der Regelstudienzeit.

Viel größer hingegen ist der Anteil derer, die gar keinen Abschluß machen. An der TU beträgt die Abbruchquote (wohlgemerkt die Ziffer derer, die kein Examen machen) 75 Prozent in Elektrotechnik, 60 Prozent in Maschinenbau und Verfahrenstechnik, 40 Prozent in Physik und 80 Prozent in Volkswirtschaft. Ähnlich hart an der Freien Universität: Der Prozentsatz der Abbrecher liegt bei 61 Prozent in Germanistik, 44 Prozent in Jurisprudenz, 56 Prozent in Politischer Wissenschaft und 57 Prozent bei den Betriebswirten.

Massenuniversitäten mit dieser Erfolgsquote sind Sackgassen, Institutionen der Anomie, nicht der Ausbildung. In ihnen steht alles auf dem Kopf: Statt kecker Studenten mit intellektueller Neugier begegnet man im Hörsaal erfahrenen Sozialdarwinisten, denen die antizipierte Enttäuschung ins Gesicht geschrieben ist. Sie haben fürs Leben gelernt, in der Massensituation aufzugehen und unauffällig zu agieren. Statt frischer, ausgeruhter Dozenten trifft der Student mißmutige Verwaltungsprofessoren, die in den fortwährenden Gremiensitzungen über immer neuen Sparauflagen grau geworden sind. De facto hat sich die Hochschule in ein absurdes Theater verwandelt: Wie die negativen Helden bei Beckett vergebens auf Godot warten, so ist die entmachtete Universität mit komischen Figuren bestückt, die nichts bewegen und um ihre Vergeblichkeit wissen.

In diesem Realtheater verkehren sich die Rollen ins Groteske. Berlins Wissenschaftssenator tritt als Finanzsenator auf und verfügt statt eines Bildungsplans ein neues Sparkonzept von bislang unbekannter Dramatik. Stand zu Beginn des Wintersemesters 1992/93: 15.000 Studienplätze sollen mittelfristig eingespart werden (wohlgemerkt Plätze, nicht Studenten), so daß die halben Studenten abermals amputiert werden. Strategie: Je schlimmer, desto besser (stets kombiniert mit dem Hinweis auf die teuren neuen Länder). Vielleicht macht sie ja Sinn, diese Strategie, das Chaos spricht sich herum, und die Studenten bleiben „endlich“ fort – ganz ohne Zulassungsbeschränkung? Ein eindrucksvolles Bildungskonzept.

Auch die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) hat die Rolle gewechselt. Dieser geduldige Verein prophezeit wie eine radikale Studentenorganisation für den Winter Demonstrationen und Streiks. Kommentar der Süddeutschen Zeitung: „In der Hochschulrektorenkonferenz wird nicht verhehlt, daß Druck von der Basis dem politischen Geschäft zuträglich wäre.“

Und die Studenten? Ich weiß es nicht, welche Rolle sie übernehmen werden. Zugedacht hat man ihnen die einer verschwindenden Masse. Sie sollen sich in Luft auflösen. Doch warum sollen sie dem Senator diesen Gefallen tun? Warum streiken, wo sie täglich von oben bestreikt werden? Warum nicht Dienst nach Vorschrift („es ist Semester, und alle gehen hin“) und das Chaos durch komplette Anwesenheit öffentlich machen?

Das Interesse der Studenten ist eine funktionierende Universität. Die Devise dafür lautet: „small is beautiful“ oder Abkehr von der Massenuniversität. Aber „small“ in der Wissenschaft heißt nicht, die Großinstitutionen kleinzuhacken und vollends zu zerstören, sondern ihre behutsame Zerlegung und Entflechtung und Schaffung vieler kleiner studienfreundlicher Einheiten (Colleges), die zueinander im Verhältnis der Konkurrenz und Ergänzung stehen.

Es herrscht keine Konjunktur für Visionen, meint der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, Dieter Simon. „Aber auf der anderen Seite sind wir die drittreichste Industrienation der Welt. Wenn man eine säkulare gesellschaftliche Anstrengung machte, könnte man ein Dutzend kleiner Universitäten gründen.“

Das ist keine Sparmaßnahme, gewiß. Aber wenn 30 bis 40 Prozent eines Jahrgangs studieren, dürfen die Hochschulen nicht als akademische Bahnhofsmissionen geführt werden. Gute Universitäten brauchen keinen Luxus, eine gewisse Kargheit ist ihnen vermutlich sogar förderlich. Am besten gedeihen sie, wenn ein Minimum an Idealismus in ihnen erhalten bleibt, so daß im normalen Extremfall auch Individuen in ihnen arbeiten, die sich „mit Freude und für wenig Geld über alte Texte beugen“. So die erfrischend antiquierte Formulierung von Simon. Um dieses Minimum muß gestritten werden.

Der Autor ist Redakteur des Leviathan, Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Dort

erscheint der – hier gekürzte – Beitrag in Heft 4/1992.