Ein Posten Rheumadecken

■ Die Stranglers spielten im Berliner Metropol

Als sich die Stranglers 1975 gründeten, war das Wort Punk nicht mehr als ein Slangausdruck. Als sich dies kurz danach änderte, wurde eine Band nach oben gespült, die nie Punkrock im eigentlichen Sinne war. Das hat die Stranglers nie gestört, sie lagen eh mit der ganzen Welt im Clinch und paßten gerade deshalb besonders gut ins Punkrock-Klischee. Bassist Jean-Jacques Burnell biß damals nicht nur gerne unliebsame Journalisten, er prügelte sich auch mit Paul Simonon von The Clash und den halben Sex Pistols. Provokation war auch sonst ihr Metier: sie ließen S/M-Stripperinnen während ihrer Shows auftreten und waren erklärtermaßen Junkies. Was nicht ausschließt, daß die Stranglers die wohl einzige relevante Band jener Zeit gewesen war, die Akademiker mit Abschluß in ihren Reihen hatte. Sie bespuckten von der Bühne aus das Publikum. Etwas älter waren sie schon damals.

1984 machten sie ihre vielleicht beste Platte, nannten sie „Aural Sculpture“ und druckten auf die Hülle ein Manifest, in dem unter anderem zu lesen war: „Innerhalb der Grenzen dieser konzentrischen Rillen findet demnächst eine unbefleckte Empfängnis statt.“ Aurale Skulpturen waren rein äußerlich nicht von guten Pop-Songs zu unterscheiden, aber dieser Bauerntrick öffnete den Stranglers die Möglichkeit, sich in Interviews nicht mehr zu ihrer Musik äußern zu müssen. Der Frager solle doch lieber einen Musiker fragen, man selbst sei doch auraler Bildhauer.

Danach wurden sie ein bißchen weniger spinnert, machten aber leider schlechtere Musik. Ein solcher finanzieller Wurf wie „Aural Sculpture“ sollte ihnen nicht mehr gelingen — auf der Höhe der Zeit waren sie schon längst nicht mehr (demnächst werden einige von ihnen ihr fünfzigstes Lebenjahr vollmachen). Frustriert über den Stillstand verließ Sänger und Gitarrist Hugh Cornwell 1990 die Band und wurde durch einen altersmäßig passenden Ex-Vibrator an der Gitarre und einen jungen Huschel am Mikrophon ersetzt. In dieser Besetzung entblödeten sich die Stranglers nicht, in diesem Jahr eine Platte mit dem Titel „Stranglers in the Night“ rauszubringen. 18 LPs lang hatten sie sich diesen flauen Scherz verkneifen können.

Wie sie so auf die Bühne kommen, kann man eigentlich nicht behaupten, daß der Zahn der Zeit sehr offensichtlich an ihnen genagt hätte. Die Schönsten und die Jüngsten waren sie noch nie. Trotzdem gibt es ein Alter, in dem auch Burnell schlichte schwarze T-Shirts nicht mehr tragen sollte. Trommler Jet Black ist noch fetter geworden, kommt wohl vom Sitzen. Keyboarder Dave Greenfield hat exakt dieselbe Unfrisur wie vor zehn Jahren. Der neue Gitarrist John Ellis sieht aus wie sein eigener Totengräber, und Sänger Paul Roberts ist so zappelig, wie es sich für jemanden gehört, der mit den Helden der eigenen Kindheit spielen darf.

Aus den Boxen drückt sich ein Monster-Monster-Sound, dessen einziges Anliegen es zu sein scheint, die Anlage in kleine Stückchen zu fetzen. Dann setzt der Gesang ein, mit soviel Hall, daß selbst die Sisters of Mercy vor Neid noch blasser werden würden. Während sich einige Stirnen im Publikum runzeln, bollert es weiter und weiter und weiter. Nach zwanzig Minuten Tortur erzählt der Jungspund, er habe gehört, daß Berlin die tollste Stadt in Germany sei und wir hier die jede Nacht Parties feiern würden — Augenzwinkern. Ich stell' mir vor, wie er dieselbe Anbiederung vier Tage zuvor in Mannheim oder morgen in Fulda vortragen wird.

Die ganze Veranstaltung erinnert verteufelt an eine dieser Kaffeefahrten, bei denen Senioren ihre Jugendhelden vorgeführt werden: Leute, die sich mit ihrem Namen nur noch das Gnadenbrot verdienen. Aber die wissen wenigstens, worauf sie sich einlassen, und bekommen zudem noch umsonst Kaffee und Kuchen.

Trotzdem ist das Publikum im Metropol frenetisch gestimmt. Es tobt, als stünde ein Posten Rheumadecken zum Verkauf. Draußen ist es kalt, aber hier drin gibt es keine Rheumadecken. Ich gehe trotzdem sehr, sehr früh. Thomas Winkler