Wie die Maus buddelt

Über Helmut Salzingers „Der Gärtner im Dschungel“  ■ Von Mathias Bröckers

Was das Verfassen von Büchern angeht, hat der Philosoph Gilles Deleuze („Für eine kleine Literatur“) einmal eine Art Mimikry empfohlen: Schreiben, wie eine Ratte sich durchs Schilf schlängelt, wie eine Maus ihr Loch buddelt. Doch wie hätte ein solches Kleinwerden der Literatur auszusehen? Kann man wirklich schreiben wie eine buddelnde Maus? Und kann man vermeiden, dabei wie Kaninchen, der eitle Besserwisser in „Pu der Bär“, zu wirken?

Man kann. „Der Gärtner im Dschungel“ ist ein solches Buch. Kein schweres, philosophisches, sondern ein kleines, weises. Sein Verfasser, Helmut Salzinger, hat mit der Nomadologie von Deleuze/Guattari vielleicht überhaupt nichts zu tun – und doch wiederum sehr viel; er hat geradezu das Gegenteil von nomadischer Literatur geschrieben – ein Gartenbuch nämlich. Und doch scheint diese Karte eines Mikrokosmos die gesamte Welt zu enthalten. Nicht zuletzt den Übergang vom Nomadischen zum Seßhaften. Mit dem ersten Spatenstich fing alles an: „Auf der Erde ist jeder menschliche Zugriff ein Angriff (auf etwas, das bereits vorher bestand). Und im Garten speziell bedeutet jeder Handgriff nicht nur Eingriff, sondern zugleich auch Übergriff. Jede Pflegemaßnahme bewirkt Störung und Zerstörung – neben aller Pflege. Wenn ich das total verunkrautete Stück der Himbeeren säubere, damit Licht und Luft herankommen und der Boden abtrockne, dann rennen auch hier nach allen Seiten Spinnen und Käfer weg. Der Igel sieht sich entdeckt, und die Braunelle wippt nicht mehr auf den Stützdrähten für die Himbeerranken. Überall – wörtlich: überall lebt irgendwer. In diesem Sinne ist praktisch der gesamte Planet Erde von einer wimmelnden Hülle aus Leben umgeben, und da ist es unausweichlich, daß einer, wohin er tritt, einen anderen tottritt, jedenfalls als Mensch, zumindest tendenziell. Wer dabei nicht mittun will, wird es schwer haben in seinem Leben.“

Anfang der siebziger Jahre zog sich Helmut Salzinger, bis dahin Literatur- und Musikkritiker und Essayist („Swinging Benjamin“, „RockPower – Wie musikalisch ist die Revolution?“), aufs Land zurück. Ein Stadtmensch und Intellektueller, der von Natur zwar keinen Dunst hatte, sich aber aus theoretischen und praktischen Gründen fortan aus dem eigenen Garten ernähren wollte. Das ging, wie zu erwarten, schief.

Die Geschichte dieses Scheiterns ist eine Ebene von Salzingers Buch. Eine andere ist der Erkenntnisgewinn, der aus dem Scheitern resultiert: aus dem potentiellen bio-dynamischen Selbstversorger wird ein Gärtner im Dschungel, aus dem Herrn und Meister der Natur eine Mitkreatur, die den Wesen um sich herum beim Wachsen zuschaut: „Seither ist immer was los, selbst wenn nichts geschieht. Mein Zeitgefühl hat sich verändert. Zeit ist ein gleichmäßiger Fluß geworden...Mein Blick weitet sich, ich bekomme ein Gefühl für natürliche Rhythmen. Das Jahr schließt sich zu einer zyklischen Einheit zusammen, einer Vegetationsperiode von Wachsen, Vergehen und Ruhe. Dann eine neue Runde. Jede Pflanze nimmt daran teil, und ich nehme allmählich wahr, daß auch ich selber, wenn ich es nur zulasse, an diesem rhythmischen Kreislauf beteiligt bin. Ich gehe zwischen den Lebewesen im Garten herum und habe gelegentlich das Gefühl, selber ein solches Lebewesen zu sein. Ein Wesen wie alle, von ihrer Art und Natürlichkeit. Das Empfinden, das sich dabei zuweilen einstellt, erinnert mich an so etwas wie Glück.“

„Der Gärtner im Dschungel“ ist auch eine Geschichte der Wahrnehmung – der Wiedergewinnung eines Gespürs für die Ganzheit und pulsierende Allgegenwart des Lebens, der unmittelbaren Wechselwirkungen von Mikro- und Makro-Kosmos, von Kleinstlebewesen und Gesamt-Biosphäre. Während einst der Garten ein Stück Kultur war, das gegen die Wildnis verteidigt werden mußte, gerät er nun, gegen die flächendeckende Planierung durch die Zivilisation, zu einem Asyl für die Wildnis. Und der Macher des Gartens hofft, irgendwann „zum Bewohner des Gartens geworden zu sein und recht eigentlich zu seinem Bewuchs zu gehören, wie die kleinen Käfer und Spinnen unterm Gras dazugehören.“

Auch dies, die Wandlung vom Experimentator zum Teil des Experiments ist eine der Ebenen des Buchs: Natur nicht mehr als zugerichtetes (und zunehmend zugrundegerichtetes) Objekt, sondern als Gesamtzusammenhang, in den sich der Mensch, wie die Maus und die Laus, zu fügen hat. Ein solches, möglichst mannigfaltiges Gefüge versucht Salzinger in seinem Wildgarten zu schaffen – und als seine Frau unterm Haus den Horror aller Kleingärtner, ein Schlangennest, entdeckt, mischt sich in die Freude darüber auch „eine Spur von Stolz“.

Bei all dem ist dieses Buch keine neo-romantische Wildnisschwärmerei, kein Öko-Idyll aus dem stillen Winkel. Salzinger bastelt sich keinen neuen lieben Gott zurecht, um biologische Vorgänge zu erklären: „Zwar, Gott ist tot, das stimmt. Doch hat dieses säkulare Ereignis den Menschen nicht zu jenem Übermenschentum befreit, das Nietzsche sich erträumte. Wenn wir etwas vom Wesen des Menschlichen begriffen haben, dann dieses: daß der Mensch als Natur und Lebewesen von keinerlei Bestimmung über die Erde gesetzt ist, wie es manche von den alten Mythen lehren, sondern daß er von gleicher Art ist wie alles Lebendige auch und daß, worin er sich unterscheidet – wenn er es denn tut –, nicht seine Fähigkeit ist, die Erde zu beherrschen, sondern die, sie zu hegen und zu pflegen wie einen Garten.“

Was im Rahmen von Umweltkonferenzen, wie etwa unlängst in Rio, nicht stattfand – die Formulierung einer neuen, umfassenden Bioethik – hier, in diesem einfachen Bericht aus einem Garten, nimmt sie Gestalt an. Weniger in programmatischen Sätzen als in den alltäglichen Beobachtungen, den mit offenen Sinnen eingefangenen Wechselwirkungen dieses unendlich vielfältigen, verzweigten Universums der Gräser, Büsche, Blätter und Bäume. Und in der geschärften Wahrnehmung für alles, was mit und zwischen ihnen lebt, einschließlich des Gärtners selbst, dem der Garten nicht nur zum Wohnort, sondern, indem er ihn anschaut, auch zum Meditationsraum wird: „Mein selbstgemachtes, kleines Paradies dachte ich manchmal. Und dachte weiter: aber alles geklaut.“ Wobei der Diebstahl, die hemmungslose Aneignung von Natur, noch eines der geringsten der Vergehen ist, das der Gärtner sich und seiner Spezies dem „Töterich“ Mensch, ankreidet. Mit einem immer bloß nachträglichen Naturschutz, mit einer allein auf die Menschengesundheit fixierten Umwelt-Politik wird eine Überwindung der globalen Krise nicht zu haben sein.

Und so sind Salzingers ökologie- und zivilisationskritische Überlegungen auch nicht geeignet, die grassierende Öko-Schmuse- Welle zu stärken, den naiven Glauben an eine Rettung durch Umwelttechnik, die bloß richtig eingesetzt werden muß, und alles wendet sich zum Besten. Der Gärtner im Dschungel hat keinen grün getünchten Seelenfrieden zu verkaufen, seine in praktischer Auseinandersetzung mit der Erde, mit der Natur gewonnenen Erfahrungen konfrontieren den Leser eher mit dem Gegenteil: ohne eine Weltrevolution der Seele, ohne eine Veränderung des Innersten, des Bewußtseins, ohne eine radikale Umwertung aller Werte und vor allem seines, des Menschen, Wert als „Maß aller Dinge“, muß jede globale Versöhnung mit der Natur ein frommer Wunsch bleiben.

„Die städtische Intelligenz hat unterm Schock von Tschernobyl die Natur wiederentdeckt und ist gegenwärtig dabei, sich ihrer als Gegenstand der Betrachtung und Reflexion zu bemächtigen, wobei sie herausgefunden hat, daß es sich gar nicht um die so gern und lange geschmähte Idylle handelt, die sie sonst unausweichlich mit dem Begriff Natur assoziiert hatte. Sie entdeckt vielmehr, daß es da auf Leben und Tod zugeht, nutzt aber diesen epochalen Fund lediglich dazu, die alte Scheinfront wieder aufzubauen. Als sei es um „richtig“ oder „falsch“ verstandene Natur zu tun, wobei, nachdem sie endlich „richtig“ verstanden worden sei, endlich auch wieder die Frage aufgeworfen werden könnte, wie sich ihr gegenüber der Mensch zu behaupten habe. Was sie einfach nicht wahrhaben will, diese Intelligenz, ist die Einsicht, daß es der Fragen nach dem Menschen endlich genug und die Zeit der Antwort gekommen ist. Wer sie weiterhin stellt, betreibt auch weiterhin den Ausverkauf der Natur, es sei denn, er akzeptiere die untergeordnete Rolle des Menschen im ökologischen Zusammenspiel des Lebens, die möglicherweise darin besteht, eine bestimmte Spielart aktiver Intelligenz auf der Erde auszuprobieren, möglicherweise aber auch nur darin, das ökologische Gleichgewicht auf der Erde zu stören, zu wessen Gunsten auch immer. Wenn schon nicht zum Nachteil des Ganzen. Es geht um nichts weniger als um die Verabschiedung des Menschen aus der Geschichte.“

In Passagen wie diesen mag Pessimismus vom Schlage eines E.M.Cioran durchschimmern, demzufolge die Natur, als sie den Menschen zuließ, einen Anschlag auf sich selbst verübte; dennoch reiht sich dieses Buch nicht in jene Reihe von „Schwarzbüchern“ der Menschheit ein, die als einzig wirksamen Naturschutz für die Selbstabschaffung des „Krebsgeschwürs Mensch“ plädieren. Salzingers praktische Erfahrungen mit Un- Kraut und Un-Geziefer, mit der wuchernden und wimmelnden Intelligenz der Biosphäre führen eher zu dem Schluß, daß es mit der Intelligenz des Menschen nicht sehr viel weiter her ist als mit der einer Laus. Und daß er nur überleben kann, wenn er sich seiner Läusehaftigkeit wieder erinnert, und dabei alles, was kreucht und fleucht und krabbelt, als grundsätzlich gleichwertig anerkennt. Menschenrechte für Pflanzen und Tiere – in seinem Garten hat Helmut Salzinger versucht, sie zu gewährleisten, ohne seine Rechte als Mensch dabei aufzugeben. Wenn die Lust auf Stachelbeeren siegte, muß, bei aller Ehrfurcht vor dem Leben, durchaus mal die biologische Giftspritze her, um der Läuseplage Herr zu werden.

Ich scheue mich nicht, dieses kleine Gartenbuch große Literatur zu nennen. Nicht nur, weil es das fundamentale Thema schlechthin behandelt – mit dem ersten Spatenstich begann alles, was wir heute Kultur nennen, die Kultivierung und Kontrolle des Territoriums und des Lebens –, sondern weil es dies aus praktischer Erfahrung tut, und in einem klaren, transparenten Stil, der die aus der Anschauung von Mikro-Ereignissen gewonnenen großen und tiefen Einsichten ohne Pathos vermittelt. Als Sachbuch enthält es mehr Information über die Natur als viele naturwissenschaftliche Werke; als kulturgeschichtlicher Essay verhandelt es nicht weniger als die Grundbedingungen des Menschseins; als Gartenbuch enthält es eine Vielzahl praktischer Tips; und als einfacher Bericht von einem, der auszog, auf dem Lande zu leben, ist es beste, weil Geschichten erzählende Literatur. „Unkraut“, meinte einst Henry Miller, „ist die weiseste aller Lebensformen“. Helmut Salzinger hat einiges davon abbekommen. Und so hat er geschrieben wie eine Feldmaus buddelt – nicht nur Stadtratten können viel bei ihr lernen.

Helmut Salzinger: „Der Gärtner im Dschungel“. Kellner-Verlag 1992, 165 Seiten, 28 Mark