Neue Wanderungen durch Utopia

Ein soeben erschienener Sammelband über die Zukunft der politischen Utopie bleibt nicht bei einem generellen Abgesang aufs utopische Denken stehen.  ■ Von Christian Semler

„In den Phalanstère werden sich die Küchenchefs ihrer Arbeit mit der gleichen Begeisterung widmen wie jener französische Koch, der sich im Anblick des Diners eine Kugel durch den Kopf schoß, weil das Menü durch die verspätete Ankunft eines Seefischs unvollständig geblieben war.“ Nein, der Gott des Utopisten Charles Fourier haßte alle Gleichförmigkeit. In seiner „Theorie der vier Bewegungen“ von 1808, einer aberwitzig-großartigen, den Kosmos umspannenden Vision von der Entfesselung der Leidenschaften, hat der kleine Bankangestellte Fourier uns eine Gesellschaft anempfohlen, in der unterdrückte Individualität, vor allem die der Frauen und der Kinder, sich wird frei entfalten können.

Nicht alle politischen Utopien sind auf den hyperrationalen, gleichgeschalteten, monotonen Vernunftstaat ausgerichtet. Zwar waren nicht wenige Utopisten ihren logischen Deduktionen geradezu verfallen. Aber schon Thomas Morus sät in seiner „Utopia“ ironische Zweifel an der Realisierbarkeit wie dem Nutzen des eigenen Idealstaats. An diesen Differenzierungen festzuhalten erscheint um so notwendiger, als nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus der Versuch unternommen wird, uns mit den sozialistischen Flausen gleich jede Art politischer Phantasieproduktion auszutreiben. Die konservative Phalanx präsentiert die Rechnung für die Verwüstungen, die die gescheiterte kommunistische Utopie in diesem Jahrhundert angerichtet hat. Die Argumentation ist strikt interessengeleitet. Nach Meinung der Konservativen läßt sich jede politische Utopie auf drei Elemente reduzieren: die Idee des „Neuen Menschen“, zu welcher der aus krummem Holz geschnitzte Alltagsmensch umgemodelt werden muß; die Idee von der ewigen gesellschaftlichen Harmonie, wenn der utopische Entwurf erstmal verwirklicht ist und schließlich die Idee erzwungener Gleichförmigkeit. Gegen ein solches Schreckbild läßt sich trefflich der Status quo ins Feld führen. Wir leben in der besten aller vorstellbaren Welten, schlußfolgern die Konservativen, Leibniz folgend, aber Voltaire ignorierend.

Es gehört nicht zu den geringsten Verdiensten des von Richard Saage herausgegebenen Sammelbandes „Hat die politische Utopie eine Zukunft?“, die Diskussion etwas von diesen politischen Kalkülen zu distanzieren, ohne sie akademisch zu entrücken. Saage, selbst ein ausgewiesener Guide durch utopische Gärten und Sumpflandschaften, versammelt sie alle, konservative Spekulanten, trotzige linke Festhalter des „Ganz-Anderen“, nachdenkliche Befürworter gemäßigter Träume, Spezialisten und – Gott sei Dank – Liebhaber des literarischen Genres Utopie. Der Band beginnt mit der fälligen Abrechnung, drei rechte Autoren gegen zwei Linke, mit einem Puffer in der Mitte. Er untersucht sodann, welch schlechte Figur die Intellektuellen als Hohepriester utopischen Herrschaftswissens gemacht haben, um schließlich zu den beiden „konstruktiven“ Teilen des Werkes zu kommen: Erstens zu einer Bestandsaufnahme der Möglichkeiten, politische Utopien im Sinne Kants als regulative Prinzipien zu denken, die Bewußtsein schärfen, Handeln anleiten aber niemals völlig umsetzbar sind. Zweitens zu einer Schilderung des utopischen Potentials, das in den Alternativ- und Frauenbewegungen sprießt beziehungsweise wuchert.

Der erste Teil des Sammelbandes enttäuscht, zumal die Widersacher des rechten ideologischen Antiutopismus, vor allem Fetscher, sich darauf beschränken, die Identifikation utopisch ausgemalter Idealzustände mit der „geschlossenen“ Geschichtsteleologie des Marxismus-Leninismus zurückzuweisen. Es gab aber in einer Reihe sozialistischer Länder, zum Beispiel in Jugoslawien, historische Phasen, innerhalb derer tatsächlich versucht wurde, „offene“ utopische Entwürfe in die Tat umzusetzen. Deren Scheitern läßt sich eben nicht ausschließlich damit erklären, daß alles Neue von der Partei-Nomenklatura erdrückt wurde. Eine politische Utopie, also ein ausgearbeiteter Gegenentwurf der Gesellschaft, ist nur in dem Maße interessant, wie er ein „methodisches Organ fürs Neue“ (Ernst Bloch) wird. Gegenüber den Konservativen haben die Verfechter jeder „konkreten Utopie“ ab jetzt die Beweislast für die humane Verträglichkeit ihrer Vorschläge. Sie können sich nicht, wie im Falle der Selbstverwaltung, auf deren antitotalitären Charakter berufen.

Diesem Problemkreis widmet sich der dritte Teil des Sammelbandes, vor allem die ausgezeichneten Aufsätze von Udo Bermbach und Richard Saage. Bermbach plädiert dafür, daß utopisches Denken aus der ihr verbliebenen Schutzzone der Kulturkritik heraustritt und politische Handlungsmöglichkeiten mit Hilfe von Szenarien gleichsam spielerisch vorführt. „Spielen heißt, den Ernstfall proben, die Utopie denken.“ In dieser Sichtweise erscheint der Club of Rome als zeitgenössische Utopistenzentrale. Richard Saage stellt zunächst das Offensichtliche fest: Utopien reagieren seit der frühen Neuzeit auf den spezifischen Problemdruck ihrer jeweiligen Epoche. Wenn utopisches Denken wieder geschichtsmächtig werden wolle, müsse es seinen noch dem 19.Jahrhundert verhafteten Ballast abwerfen. Saage stellt neben den „Club of Rome“ die „postmateriellen“ Utopien der 70er und 80er Jahre, untersucht das im Gegensatz zu den klassischen Utopien gewandelte Verhältnis zur Natur, zu den Ansprüchen des Individuums und zur Möglichkeit umfassender gesellschaftlicher Planung. Er verschweigt aber auch nicht, daß die Anfordernisse industrieller Großproduktion ebenso wie die tiefeingefressene „besitzindividualistische“ Mentalität jedem Projekt jenseits des Industrialismus wenig Verwirklichungschancen lassen.

Der letzte Teil des Sammelbandes stellt uns eine Reihe eben der „postmateriellen“ Utopien vor, wobei die Werke der amerikanischen Feministinnen wie Ursula Le Guins („The Dispossessed“, „The Left Hand of Darkness“) im Zentrum der Analyse stehen. Wie sehr die Vorstellung einer friedlichen Gesellschaft, in der die Geschlechtertrennung zunehmend in einem androgynen Menschenbild aufgehoben wird, am männlichen Selbstbewußtsein rüttelt, kann noch in den angstvollen Warnungen nachgelesen werden, die sich im ersten Teil des Bandes finden. Auch für den Rezensenten ging es nicht ohne Schaudern ab. Er, der sich nicht zum ersten Mal nach Utopia begeben hat, konnte in den durchweg informativen, gut geschriebenen Analysen ökofeministischen Utopie-Diskurses einen neuen Kontinent entdecken.

Hat die politische Utopie eine Zukunft? Hrsg. von Richard Saage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 38DM