Bleiben Irinnen Bürger zweiter Klasse?

Irlands Bevölkerung soll am 3.Dezember über eine begrenzte Legalisierung der Abtreibung entscheiden/ Es geht auch um die Reise- und Informationsfreiheit/ Die Gesellschaft ist tief gespalten, die „Lebensschützer“ zerstritten  ■ Aus Dublin Ralf Sotscheck

Die irische Regierung hat die Abtreibungs-Katze aus dem Sack gelassen: Sie ist ein Chamäleon. Der Text, über den die IrInnen in einem Referendum am 3. Dezember abstimmen sollen, ist für Interpretationen von allen Seiten offen. Er besteht aus drei Teilen. In den ersten beiden geht es um die Reisefreiheit sowie das Recht auf Informationen über Abtreibungsmöglichkeiten im Ausland.

Heftig umstritten ist der dritte Punkt: „Es ist gesetzwidrig, das Leben eines Ungeborenen zu beenden, es sei denn, eine solche Beendigung ist notwendig, um das Leben – im Unterschied zu der Gesundheit – der Mutter in Fällen zu retten, in denen eine Krankheit oder gesundheitliche Störung eine echte und bedeutende Bedrohung ihres Lebens darstellt, ausgenommen die Bedrohung durch Selbstmord.“ Die Wortwahl hat heillose Verwirrung gestiftet, zu der die Regierungspartei Fianna Fail (Soldaten des Schicksals) erheblich beigetragen hat.

Premierminister Albert Reynolds sagte, daß der Referendumstext eine Abtreibung auch dann zuließe, wenn das Leben der Schwangeren nicht unmittelbar in Gefahr sei. Generalstaatsanwalt Harry Whelehan, ein entschiedener Abtreibungsgegner, widersprach ihm jedoch: Selbst eine erhebliche Verkürzung der Lebenserwartung sei kein Grund für eine Abtreibung. Gesundheitsminister John O'Connell erklärte im Einklang mit der katholischen Doktrin, daß ohnehin nur „indirekte Schwangerschaftsabbrüche“ in Frage kämen. Das hieße, daß zum Beispiel bei einer Eileiter-Schwangerschaft der gesamte Eileiter entfernt werden müßte. Als „Nebeneffekt“ wäre dadurch auch die Schwangerschaft beendet.

Premier Reynolds behauptete demgegenüber, daß die Unterscheidung in direkte und indirekte Abtreibung weder medizinisch, noch juristisch relevant sei. William Binchy, Jura-Professor und Berater der Abtreibungsgegner, ist da anderer Meinung: Die Unterscheidung in direkte und indirekte Abtreibung sei bereits Rechtsgrundlage in Irland und Großbritannien, sagt er.

Whelehan betonte in der vergangenen Woche, daß das Parlament selbst bei einem „Ja“ im Volksentscheid erst noch entsprechende Gesetze verabschieden muß, um die Unklarheiten zu beseitigen. Genau das aber will Reynolds vermeiden. Er behauptete, daß nach Meinung seiner Berater keine Gesetzgebung nötig sei. Unklar ist, wer den Regierungschef beraten hat, wenn nicht der höchste juristische Staatsbeamte Whelehan.

Die Debatte erinnert fatal an die Diskussionen vor dem letzten Abtreibungreferendum im Jahr 1983. Damals setzten sich die Abtreibungsgegner nach einer erbittert geführten Kampagne durch. Seitdem ist Irland neben Chile das einzige Land der Welt mit einem konstitutionellen Verbot der Abtreibung.

In diesem Frühjahr entbrannte der Streit erneut. Der höchste irische Gerichtshof interpretierte den „wasserdichten Paragraphen“ im Februar dahingehend, daß Abtreibung bei Lebensgefahr für die Schwangere – darunter fallen auch Selbstmordgefährdete – zulässig sei. Liege diese Lebensgefahr jedoch nicht vor, könne der Schwangeren die Ausreise zu einer Abtreibungsklinik im Ausland verweigert werden. Das Urteil bezog sich auf eine 14jährige, die nach einer Vergewaltigung schwanger geworden war. In erster Instanz hatte ein Gericht ihr die Ausreise untersagt, um eine Abtreibung in England zu verhindern.

Der Fall hatte lange Zeit die irische Debatte über die Maastrichter Verträge überschattet. Denn die irische Regierung hatte auf Betreiben der selbsternannten Lebensschützer das Abtreibungsverbot durch ein Zusatzprotokoll in die Maastrichter Verträge aufnehmen lassen. Das Urteil vom Februar hatte deshalb zu einer bunten Koalition auf seiten der Maastricht-Gegner geführt: Die einen glaubten, daß Schwangerschaftsabbrüche in Irland durch die Ratifizierung legalisiert würden, die anderen befürchteten die Degradierung von Frauen zu „Bürgerinnen zweiter Klasse“, denen jederzeit die Ausreise ins Ausland untersagt werden könne. Reynolds versuchte, beiden Seiten den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er ein erneutes Abtreibungs-Referendum versprach – mit Erfolg: Die Bevölkerung stimmte den Maastrichter Verträgen im Juni mit einer sehr deutlichen Mehrheit zu.

Damals traten fast alle Parteien für Maastricht ein. Diesmal ist Fianna Fail jedoch isoliert. Der Textvorschlag für den Volksentscheid hat sogar eine Regierungskrise ausgelöst. Fianna Fails kleiner Koalitionspartner, die Progressiven Demokraten, stimmen mit der Opposition darin überein, daß die Abtreibungsfrage aufgrund der Erfahrung von 1983 nicht per Volksentscheid, sondern durch Gesetzgebung geregelt werden sollte. Davor schreckte die Parteiführung Fianna Fails auf Druck ihrer eigenen Hinterbänkler jedoch zurück. Die befürchteten nämlich, daß jede Meinungsäußerung zu diesem sensiblen Thema ihnen in ihren Wahlkreisen schaden könnte. So will man der Bevölkerung den schwarzen Peter zuschieben, obwohl sich bei Meinungsumfragen eine Mehrheit von 58Prozent gegen ein Referendum ausgesprochen hat. Den Progressiven Demokraten bleibt nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen: Sie werden gemeinsam mit Fianna Fail den Referendumstext im Parlament verabschieden, da ihnen Reynolds andernfalls mit Auflösung der Regierungskoalition gedroht hat. Das hindert die Progressiven Demokraten freilich nicht daran, sich an der Kampagne der Opposition für ein „Nein“ zum dritten Referendumspunkt zu beteiligen.

Die Wahrscheinlichkeit einer Ablehnung ist groß. Zwar hat die Abtreibungsfrage erneut zu einer Spaltung der irischen Gesellschaft quer durch alle Alters- und Berufsgruppen geführt. Einig ist man sich jedoch in der Ablehnung des wirren Vorschlags zur Verfassungsänderung – wenn auch aus ganz entgegengesetzten Beweggründen.

Die Abtreibungsgegner sehen darin trotz der restriktiven Formulierung einen ersten Schritt in Richtung auf einen „Abtreibungs- Holocaust im kontinental-europäischen Stil“. Zahlreiche Gruppen und Organisationen haben sich in der „Pro-Life Campaign“ (PLC) zusammengeschlossen, deren Wortführer der Fianna-Fail-Senator Des Hanafin ist. Pro-Life Campaign ruft zu einem „Nein“ bei der Volksabstimmung auf und fordert statt dessen ein ausnahmsloses Abtreibungsverbot. Ein Pro-Life- Campaign-Sprecher sagte am Wochenende: „Der Vorschlag, daß die irische Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts per Verfassung eine Lizenz zum vorsätzlichen Töten ungeborener Kinder ausstellen soll, ist völlig unakzeptabel und medizinisch nicht zu rechtfertigen.“

Die Einigkeit der Anti-Abtreibungslobby droht jedoch, an taktischen Fragen zu zerbrechen. Die Pro-Life Campaign hat sich von „Youth Defence“, einer Organisation von Jugendlichen mit mehr als 3.000 Mitgliedern, inzwischen distanziert. Deren militante Methoden – die Austellung von Bildern abgetriebener Föten, das Bespritzen ihrer Gegner mit Ochsenblut und die Belagerung der Privathäuser von Abgeordneten – erscheinen ihnen kontraproduktiv. Youth Defence, die auch die Reise- und Informationsfreiheit als „Beihilfe zum Mord“ ablehnen, warf der Pro-Life Campaign dagegen vor, daß sie den Kontakt zur Basis verloren habe.

„Politiker, die für Abtreibung eintreten und junge Menschen korrumpieren, verdienen keinen Respekt“, hieß es in einer Presseerklärung. Youth Defence wird von einem „Freundeskreis erwachsener Sympathisanten“ finanziell unterstützt, dessen Sprecher Richard Greene, ein ehemaliger Stadtrat der irischen Grünen, bereits Klage gegen den Referendumstext vor dem Verfassungsgericht angekündigt hat.

Bei Frauenorganisationen und Abtreibungsbefürwortern hat der dritte Referendumspunkt Entrüstung ausgelöst. „Die Regierung will Irland zum einzigen Land in der Welt machen, in dessen Verfassung ausdrücklich festgeschrieben ist, daß die Gesundheit von Frauen keine Rolle spielt“, sagte die Labour-Abgeordnete Niamh Breathnach. Der gemäßigte „Rat für den Status von Frauen“ wies Reynolds darauf hin, daß eine selbstmordgefährdete Frau tatsächlich in Lebensgefahr sei. Deshalb müsse eine Abtreibung auch in diesen Fällen zulässig sein.

Überhaupt hat die Abtreibungsdebatte der irischen Frauenbewegung zu einem neuen Aufschwung und ungewohnter Einigkeit verholfen. Das war nicht immer so: in den siebziger Jahren stritt man über die Haltung zu Staat, Kirche sowie die feministische Position zur Teilung des Landes. Seit der Gerichtsentscheidung vom Februar haben sich Ärtzinnen, Studentinnen, sowie Frauenkliniken, Bildungseinrichtungen für Frauen und unabhängige Frauengruppen zu einer Aktionsgemeinschaft namens „Frontline“ zusammengeschlossen.

Aber auch andere Gruppierungen werden aktiv. Der „Rat für Bürgerrechte“ warf der Regierung vor, Frauen als Brutmaschinen zu behandeln. Der stellvertretende Vorsitzende Tom Cooney sagte: „Es darf nie wieder einen Fall wie den der 14jährigen geben, der Irland in den Augen anderer demokratischer Länder wie eine mittelalterliche Theokratie im Stil des Iran der Ayaltollahs erscheinen ließ.“ Die Labour-Abgeordnete Eithne Fitz Gerald sagte, der Text sei „zutiefst frauenfeindlich“ und lasse die Frauen und ÄrztInnen in großer Ungewißheit.

Wie stehen die ÄrztInnen zu dem vorgeschlagenen Text? Sie sind ebenso gespalten wie der Rest der Bevölkerung. Maureen O'Carroll von den „Doctors for Life“ befürchtet, daß ÄrztInnen in Zukunft wegen Vernachlässigung ihrer Pflichten verklagt werden können, wenn sie sich weigern, Abtreibungen durchzuführen.

Ihr Kollege Brian Lemass sagte: „In meiner langen Erfahrung ist mir noch kein Fall untergekommen, in dem das Leben einer Schwangeren durch eine Abtreibung hätte gerettet werden können.“ Brian Maurer von den „Doctors for Freedom of Information“ widersprach ihm jedoch: „In meiner Funktion als Kardiologe sind mir in den vergangenen 30 Jahren zahlreiche Fälle begegnet, in denen das Leben der Schwangeren durch eine Abtreibung gerettet wurde. Das kann ich eindeutig sagen.“

Die Abtreibungsdebatte hat auch das irische Fernsehen RTE in einen Konflikt gestürzt. Wie soll Abtreibung in den Nachrichten für Taubstumme dargestellt werden? Wenn es nach den „Lebensschützern“ ginge, würde das Wort als Messerstich in den Bauch gezeigt, während andere für den Buchstaben „A“ plädieren.

Irland ist längst auch zu einem Schlachtfeld der internationalen Anti-Abtreibungs-Lobby geworden. Die US-Organisation „Human Life International“ hat den irischen Abtreibungsgegnern Tonnen von Materialien im Wert von 40.000 US-Dollar zur Verfügung gestellt. Am Wochenende beginnt außerdem eine Human-Life-Delegation eine zweiwöchige „Pilgerfahrt“ durch Irland, in deren Rahmen die 15jährige Gianna Jessen vorgeführt wird. Auf Plakaten wird sie als „Überlebende des Abtreibungs-Holocaust“ angekündigt: Ihre Mutter hatte angeblich versucht, sie in der 29. Woche der Schwangerschaft abzutreiben. Die Organisation will laut ihrer Direktorin Michelle La Palm auf ihrer Rundreise „die irische Bevölkerung für die bevorstehenden Schlachten rekrutieren“. Die irische Gewerkschaft der Sozialarbeiter hat gegen Jessens Auftritt scharfen Protest eingelegt.

Auch der Papst hat sich erwartungsgemäß in die Abtreibungsdebatte eingemischt. Ende September erklärte Johannes Paul II. in Rom, daß ein konstitutionelles Abtreibungsverbot keineswegs „die Rechte anderer, einschließlich die von Müttern in schwierigen Situationen“ beeinträchtige, sondern ein demokratischer Akt sei. Darüber hinaus sprach er sich gegen das Recht auf Information aus: „Vom moralischen Standpunkt aus gibt es keine Berechtigung für die Freigabe von Informationen, deren Ziel es ist, das Töten von ungeborenem Leben zu erleichtern.“ Die irischen Bischöfe haben sich dagegen bisher zurückgehalten.

Reynolds, der bereits seine Felle davonschwimmen sah, hat sich inzwischen auf eine Erpressungstaktik verlegt. Er drohte im Falle eines Nein im Referendum mit der Verabschiedung von Gesetzen auf der Basis des höchstrichterlichen Urteils vom Februar. Das würde bedeuten: Abtreibung ohne Zeitlimit bei Lebensgefahr für die Schwangere – einschließlich Selbstmordgefahr. Das hieße aber auch, daß Schwangeren die Ausreise verboten werden könnte, wenn keine Lebensgefahr vorliegt. „Der Generalstaatsanwalt wäre nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, in solchen Fällen die Gerichte einzuschalten“, sagte Reynolds.

Ob seine Taktik aufgeht, ist zu bezweifeln. Klar ist, daß die Abtreibungsdebatte mit dem Referendum am 3. Dezember keineswegs beendet sein wird. Aufgrund der gesellschaftlichen Ächtung lediger Mütter und der erbärmlichen sozialen Lage vieler kinderreicher Familien wird Großbritannien vorerst als Sicherheitsventil unentbehrlich bleiben: Nach konservativen Schätzungen fahren jedes Jahr 5.000 irische Frauen nach England, um dort eine Abtreibung vornehmen zu lassen.