Wahlmüde Litauer quälen sich zur Urne

Über vierzig Parteien stellen sich am Sonntag in Litauen zur Wahl/ Die Wahlkampfthemen sind jedoch von Wichtigkeit: Truppenrückzug, Wirtschaftsreform, nationale Minderheiten  ■ Von Klaus Bachmann

Litauens BürgerInnen haben es dieser Tage nicht leicht. Selbst wenn sie sich schon darüber klar geworden sind, welcher der insgesamt 40 zur Parlamentswahl angetretenen Parteien und Organisationen sie ihre Stimme geben wollen, so tun sie am besten daran, sich zu Fuß zum Wahllokal aufzumachen. Benzin gibt es inzwischen nämlich fast nicht mehr, und selbst in den Wohnungen, die an das Fernheizungssystem angeschlossen sind, steigen die Zimmertemperaturen nicht höher als 15 Grad. Würde normal geheizt, würden die Vorräte nur bis Mitte Dezember ausreichen. Rußland hat wieder einmal den Ölhahn zugedreht und seine Kohlelieferungen eingeschränkt. Die russische Regierung wirft Vilnius vor, mit den Zahlungen dafür im Rückstand zu sein. Zu dieser Misere kommt der jüngste Unfall im Atomkraftwerk Ignalin.

Kein Wunder also, daß die meisten Litauer angesichts solcher Alltagssorgen kaum Interesse für den ohnehin müden Wahlkampf aufbringen. Der spielt sich in den Zeitungen und im staatlichen Fernsehen ab, das endlose Debatten der Kandidaten sendet. Mit den Wahlen zum Parlament stimmen die Litauer an diesem Wochenende auch noch über eine neue Verfassung ab, auf die sich die im Parlament vertretenen Parteien erst vor kurzem geeinigt hatten. Künftig soll es so einen Präsidenten geben, der allerdings keine so großen Machtbefugnisse haben wird, wie der bisherige Parlamentschef Landsbergis dies anstrebte. Litauens Präsident soll so zwar die Regierung ernennen und das Parlament auflösen können, doch kann er die Regierung nicht absetzen. Er kann dies nur beim Parlament beantragen, gegen dessen Gesetze er ein Vetorecht hat. Damit stehen den Litauern auch bereits die nächsten Wahlen ins Haus: Noch in diesem Jahr muß ein Präsident gewählt werden, sollte die Verfassung vom Volk angenommen werden.

Überschattet werden die Wahlen von den Auseinandersetzungen mit Rußland. Nachdem sich Litauen als einziges baltisches Land bereits mit Moskau über den Rückzug der russischen Truppen bis Ende August nächsten Jahres geeinigt hatte, hat Rußland nun den Truppenrückzug ganz offiziell wieder gestoppt. Den Termin ausgehandelt hatte Landsbergis mit Präsident Jelzin persönlich. Am 2. Oktober sollte ein entsprechender Vertrag unterschrieben werden, anderthalb Wochen vorher machte der außenpolitische Ausschuß des russischen Parlaments daraus jedoch eine Makulatur: Der Vertrag sei gegen die russischen Interessen gerichtet. Er wurde bisher nicht unterzeichnet. Der russische Außenminister Kosyrew widersprach Jelzin: Rußland werde seine Interessen in den baltischen Ländern nie aufgeben, verkündete er und attackierte Lettland, Estland und Litauen, die ihm zufolge ihre russischen Minderheiten diskriminierten. Dieser Vorwurf mag in litauischen Augen für Estland und Lettland, wo es eine starke russische Minderheit gibt, berechtigt sein – so durfte die russische Bevölkerung bei den estischen Wahlen nicht teilnehmen. Aber hier, so die Litauer, sei dieser Vorwurf übertrieben, denn hier besitze die zahlenmäßig geringe und politisch wenig aktive russische Minderheit sowohl die litauische Staatsbürgerschaft, als auch Wahl- und Minderheitenrechte.

Die Auseinandersetzung mit Rußland wirkt so direkt auf den Wahlkampf in Litauen zurück: Kalte Öfen, leere Benzinkanister und eine durch den Treibstoffmangel angeheizte Inflation sind kaum imstande, die Wähler davon zu überzeugen, den Parteien und Politikern um Parlamentspräsident Landsbergis die Treue zu halten. Von der Opposition werden Landsbergis und die rechten Sajudis-Fraktionen für die Ungereimtheiten der Privatisierung und die Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht. Tatsächlich verliert Landsbergis auch immer mehr an Unterstützung, wie das letzte Referendum über die Einführung des Präsidialsystems, das abgelehnt wurde, ebenso zeigt wie das Abbröckeln seiner Mehrheit im Parlament. Mit der Linken, besonders den ehemals kommunistischen Abgeordneten der „Partei der Arbeit“ um den früheren KP-Chef Brazauskas ließe sich aus Moskauer Sicht leichter verhandeln. Von daher ist das Zudrehen des Ölhahns kurz vor den Wahlen keineswegs nur auf Meinungsverschiedenheiten über die litauische Zahlungsmoral zu verstehen.

Andererseits kommt Moskau Landsbergis damit auch entgegen. Schon seit geraumer Zeit ist die Bedrohung durch Moskau und die Gefahr einer Rückkehr des Kommunismus das wichtigste Argument für Landsbergis und seine Anhänger bei der Auseinandersetzung mit der Opposition. Dem Aufbau eines Bedrohungsszenarios, bei dem sich die Litauer wie vor zwei Jahren noch einmal um Landsbergis scharen, kommen die rauhen Töne aus Moskau da sehr entgegen. Moskau wolle seine Vorherrschaft im Baltikum sichern und führe deshalb einen kalten Krieg gegen die baltischen Staaten. Der Abzug der Truppen werde verzögert, um eine Intervention vorbereiten zu können, erklärte er vor kurzem. Zugleich zog er in Zweifel, ob die Opposition bei einem Wahlsieg imstande sein werde, so hart wie er selbst zu verhandeln, um den Truppenrückzug abzusichern. Mit seiner kompromißlosen Haltung hat sich Landsbergis dabei allerdings in eine Falle begeben: Voraussichtlich nach den Parlamentswahlen, aber noch vor der Präsidentschaftswahl, soll die „verbesserte Fassung“ des Truppenabzugsvertrags unterschrieben werden. Bleibt Landsbergis hart, kommt der Vertrag nicht zustande, und der litauische Musikprofessor verliert sein wichtigstes As im Wahlkampf. Gibt er zu sehr nach, desavouiert er seine bisherige Kompromißlosigkeit. So hat sich Moskau auch noch für die Zeit nach den Wahlen eine Hintertür offengehalten, um auf die innenpolitische Lage Litauens Einfluß zu nehmen.