Protokoll einer Gefangenschaft

■ Die Bilder gingen um die Welt: Am Morgen des 12. Oktober wird das Greenpeace-Schiff "Solo" von russischen Marineoffizieren in der Nähe der Atomtest-Insel Nowaja Semlja aufgebracht. Verhindert wird so der...

von russischen Marineoffizieren in der Nähe

der Atomtest-Insel Nowaja Semlja aufgebracht. Verhindert wird so der

Versuch der Umwelt-Aktivisten, illegal im Meer versenkten Atommüll

ausfindig machen und filmisch zu dokumentieren. Neun Tage lang wird die

Crew gefangengehalten. Als einziger deutscher Journalist ist der

Hamburger NDR-Mitarbeiter Dethlev Cordts an Bord. taz-Redakteur

Marco Carini erzählte er die Geschichte einer abenteuerlichen Reise.

Seit Freitag ist er wieder daheim. Zurück in seiner Eimsbüttler Altbauwohnung, zurück bei seiner Frau und seinem Sohn. Die Strapazen der vergangenen Tage sind ihm noch ins Gesicht geschrieben. Neun Tage, die der 40jährige Fernsehjournalist nie vergessen wird.

Als der NDR-Mitarbeiter im Frühjahr dieses Jahres von Greenpeace die Einladung erhält, an einer Filmexpedition ins russische Eismeer teilzunehmen, ahnt er noch nicht, was auf ihn zukommen wird. Der Umweltorganisation ist es gelungen, Einblick in die Logbücher der „Murmansk Shipping Company“ zu erhalten, die für die Versenkung von zigtausend Tonnen radioaktiver Abfälle rund um das russische Atomtestgebiet Nowaja Semlja verantwortlich ist. Nach den Logbuch-Eintragen rotten insgesamt 17000 bis 18000 Stahlcontainer mit dem strahlenden Abfall der russischen Atom-U-Boote und atomgetriebenen Eisbrecher in den Fjorden der Eismeer-Insel vor sich hin. Außerdem mehrere havarierte Nuklear-U-Boote sowie kleine Atomreaktoren mitsamt des radioaktiven Brennmaterials.

Cordts, der bereits mehrere Fersehberichte darüber produziert hat, daß in der ehemaligen Sowjetunion Gas- und Ölfelder mit Atombomben „stimuliert“ wurden, nimmt die Greanpeace-Offerte dankend an, als er erfährt, daß mit einer ferngesteuerten Unterwasser- Kamera erstmals das Ausmaß der Atommüll-Verklappung dokumentiert werden soll. „Ich habe spontan zugesagt, weil ich seit langem einen Filmbericht über die radioaktive Belastung des Eismeeres plane“, erinnert sich der 40jährige. Die Fakten hat Cordts beisammen, die einmalige Chance, als erster deutscher Journalist das verseuchte Material unter Wasser filmen zu können, will er sich nicht entgehen lassen.

Am Abend des 5. Oktober geht

1Cordts im Hafen der norwegischen Stadt Vardö an Bord des holländischenschen Greenpeace-Schiffes „Solo“. Geheimhaltung ist Trumpf. Selbst Cordts weiß nicht, zu welchem der vielen Versenkungsorte rund um die Insel die Reise gehen soll. Doch es gibt eine undichte Stelle. Später wird Cordts erfahren, daß schon am 3. Oktober in der Kanadischen „Vancouver Sun“ die genauen Zielorte der Greenpeace-Expedition veröffentlicht wurden. „Es hat mich dann nicht mehr gewundert, daß die russischen Militärs genau dort auf uns gewartet haben, wo wir unsere Unterwasserdreharbeiten beginnen wollten“, ärgert sich der Hamburger Journalist heute.

Am Morgen des 6. Oktober nimmt die „Solo“ Kurs auf den Hafen von Murmansk, der mit 500000 Einwohnern größten russischen Stadt nördlich des Polarkreises. Hier brechen die Umweltschützer am 8. Oktober nach Nowaja Semlja auf. Um dorthin zu gelangen, muß die „Solo“ die Kara- Straße durchkreuzen, eine nur 18 Seemeilen breite Meeresenge. Russische Hoheitsgewässer, für die es allerdings ein Recht auf freie Durchfahrt für alle unbewaffneten Schiffe gibt. „Solo“-Kapitän Albert Kuiken und Detlev Cordts erwarten Probleme mit den russischen Behörden bei der Durchfahrt durch dieses Nadelöhr. Sie sollen Recht behalten.

Kaum sind sie in das Hoheitsgewässer eingetaucht, nimmt das russische Küstenwachboot „Ural“ Kurs auf die „Solo“. Über Funk wird Kapitän Kuiken aufgefordert, die Maschinen zu stoppen und die Küstenwache an Bord zu lassen. Doch die „Solo“ setzt ihren Kurs unbeirrt fort. Das offensive Vorgehen hat zunächst Erfolg. Die „Solo“ kann ihre Fahrt fortsetzen. Aber die „Ural“ heftet sich an das Greenpeace-Schiff.

Am Morgen des 12. Oktober er-

1reicht die „Solo“ die Stepanov- Bucht auf der Ostseite von Novaja Semlaja. Hier liegen nach den Logbuch-Aufzeichnungen der „Murmansk Shipping Company“ 1850 Container randvoll mit radioaktivem Material und ein havariertes Atom-U Boot samt seiner mit Nuklear-Brennstoffen angefüllten Kernreaktoren auf dem Meeresgrund. Sofort nach Sonnenaufgang wird ein Schlauchboot zu Wasser gelassen. Sechs Umweltaktivisten, Radar- und Funkgeräte sowie eine ferngesteuerte Unterwasserkamera

1befinden sich an Bord. Doch kaum hat das kleine Boot abgelegt, taucht hinter einer Landzunge ein zweites Patrouillenboot der russischen Küstenwacht auf, das offenbar nur auf die „Solo“ gewartet hat.

Kurz danach zerreißen Kanonen- Schüsse die Stille. Dreimal feuert die „Ural“ warnend in die Luft. Kapitän Kuiken läßt sofort die Maschinen stoppen, die Schlauchboot- Besatzung muß ihre Film-Expedition unverrichteter Dinge abbrechen. Minuten später wird die „Solo“ auf hoher See geentert. Drei Offiziere und neun einfache Soldaten stürmen, bewaffnet mit Maschinenpistolen, das Greenpeace-Schiff.

Auf der Schiffsbrücke diskutieren die Besetzer mit der „Solo“-Besatzung ergebnislos darüber, ob die „Solo“ die russischen Hoheitsgewässer verletzt hat. Die gesamte „Solo“-Crew wird unter Arrest gestellt. Die Funkstation und die Dunkelkammer werden sofort versiegelt.

1Doch die Wach-Offiziere machen zwei Fehler. Sie lassen noch sieben Stunden lang zu, daß die Besatzung Anrufe entgegennimmt. Und sie übersehen einen Sender, mit dem die Greenpeace-Aktivisten die Videobilder von dem russischen Piraten-Akt über Satellit nach London schicken können. Cordts: „Die Geräte sehen für den Laien

1aus wie eine Hifi-Anlage — das haben die Offiziere einfach nicht geblickt.“ So gelingt es der Crew, die Medien in Wort und Bild über die Kaperung zu informieren.

Für Cordts und die übrigen 32 Besatzungsmitglieder beginnt die Zeit des Wartens. „Physisch bedroht habe ich mich nie gefühlt, doch die Ungewißheit, wie lange wir festsitzen, hat an den Nerven gezerrt“, erinnert sich der Journalist an die Tage seiner Gefangenschaft. Sechs Tage lang hat Cordts keine Chance, Kontakt zu seiner Frau oder der Deutschen Botschaft aufzunehmen. Die russischen Offiziere bewachen die Crew Tag und Nacht. Sie dürfen nicht schlafen, werden die ganze Zeit nicht abgelöst. Nach drei Tagen geht den übernächtigten Soldaten die Verpflegung aus, trotz strengstem Verbot nehmen sie schließlich von den Greenpeace-Mitarbeitern Nahrung entgegen. Besonders beliebt sind bei den Wachoffizieren die Greenpeace-Buttons, die die Mitarbeiter der Umweltorganisation freigiebig

1verteilen. Bald prangen sie an den Revers der Uniformen.

Am frühen Morgen des 12. Oktober nimmt die „Ural“ die „Solo“ ins Schlepptau und Kurs gen Westen, Richtung Murmansk. Dort treffen beide Schiffe nach fünf endlosen Tagen ein. „Wir konnten nichts anderes machen als abdröhnen, das Zeitgefühl ging völlig verloren“, berichtet Cordts über die sechstägige Abschlepptour.

Der Journalist verfaßt ein Schreiben, in dem er fordert, sofort Kontakt zu seiner Familie und der Botschaft aufnehmen zu dürfen. Doch als die „Solo“ am 19. Oktober in Murmansk einläuft, wartet der deutsche Konsul bereits an Land. Die „Solo“ wird von mehreren russischen Kriegsschiffen eingekesselt, drei hohe Geheimdienst-Generäle sind aus Moskau angereist, um den Sachverhalt zu klären. Cordts erfährt von einem Mitarbeiter des Konsulats, daß die Russen das Schiff noch bis zu 13 Tagen festhalten können, ohne offiziell Anklage erheben zu müssen. Mehr als zwei Tage drängt die dreiköpfige „Aufklärungs“-Kommission den „Solo“- Kapitän, zu erklären, daß sein Schiff die russische 12-Seemeilen- Zone verletzt hat. Doch Kapitän Kuiken läßt sich nicht unter Druck setzen: „Ich unterschreibe nichts, was nachweislich nicht stimmt.“

Da die Weltöffentlichkeit informiert ist, gerät Moskau unter immer stärkeren internationalen Druck. Das Ergebnis: Am Morgen des 21. Oktober drehen die Kriegsschiffe ab, zwei Stunden später macht auch die „Solo“ ihre Leinen los, nimmt Kurs auf Vardö. Die Gefangenschaft ist zuende. Doch zum Feiern fehlt Dethlev Cordts erstmal die Kraft: „Ich habe kaum Freude gespürt, nur Erschöpfung.“