: Vorschlag
■ Im besten Fall Naturschutzwall
Unweit des nicht mehr existenten Antiimperialistischen Schutzwalls, am Alexanderplatz, ist eine Ausstellung über einen anderen nicht mehr existenten Schutzwall zu sehen. Beiden ist gemeinsam, daß ihr Fall nur Folge anderer Ereignisse war – ein Schicksal, das noch weitere Wälle teilen. Dem Westwall, von dem die Ausstellung handelt, kam ebensowenig kampfentscheidende Funktion zu wie der Maginotlinie in Frankreich, der belgischen KM-Linie oder der tschechoslowakischen Schöber-Linie. Ein höhnischer Witz, daß Befestigungsanlagen, die enorme Summen an Produktivvermögen verschlangen, erst umgangen und dann vergessen wurden. Souvenirs sind sie heute, Abenteuerspielplätze, im besten Fall Naturschutzwall.
Wenn nicht kampfentscheidend, so waren sie doch alle kriegsdienlich. Die Aggression beginnt mit der Verteidigung. Der Feind wird mit dem Wall aufgebaut. Es war ein kostspieliges Unternehmen – in NS-Propagandabroschüren als „gepanzerter Westen“ bezeichnet –, das riesige Quantitäten an Rohstoffen und Arbeitsleistungen verschlang. Das zuallererst wird in der Ausstellung deutlich gemacht. Die „Organisation Todt“ vom Autobahnbau her bewährt, zeichnete sich auch hier aus. Dienstverpflichtung, Kasernierung, Höchstlöhne, blauer Montag und „Arbeitserziehungslager“ standen der Arbeiterschaft ins Haus. „Friedensarbeit“, die quasi-militärisch organisiert, mit pseudomilitärischen und militärischen Ehren ausgezeichnet und in martialischem Propagandajargon glaubhaft gemacht wurde.
Die Propaganda, die ab Spätsommer 1939 den Bau der „Front aus Stahl und Beton“ begleitete und in Broschüren, Illustrierten- Fotoreportagen, Kunstausstellungen und Fritz Hipplers Westwall-Film in der Ausstellung rekonstruiert wird, berührt im nachhinein seltsam ambivalent. Man weiß – es wird einem in der Ausstellung plausibel dargelegt –, daß sie ankam, und vermag es dennoch nur schwer nachzuvollziehen. Eine Frau (ich), dreizehn Quasi-Glatzen sowie ein einziger langhaariger Junge sitzen in der Videoecke, schauen sich Hipplers „Der Westwall“ an, und merkwürdigerweise lachen alle bei den gleichen lächerlichen, pathetischen Bildern und Worten. Ansonsten langweilt der Film. Zwischen ihm, „Starwars“ und SDI, einem weiteren obsoleten Schutzwall, liegen Äonen von Propagandajahren. Den Kurzgeschorenen, die deutlich eine Gruppe, allerdings ohne Zeremonienmeister ideologischer oder pädagogischer Dressur sind, würde ich ziemlich schlechte Motive für den Ausstellungsbesuch unterstellen. Daß sie frustriert werden, und zwar durch die Original-NS-Materialien, ist ein interessanter Aspekt. Die Weltkrieg- II-Erfahrenen bringen in altmodischer Schreibweise ihre Zustimmung zur kritischen Aufarbeitung ihrer Vergangenheit im Gästebuch zum Ausdruck. Wenn Glatzen so etwas wie Frustrationstoleranz kennen würden, wäre ihnen der Katalog, der mit neuesten Untersuchungen besticht, denen jegliche volkspädagogischen Ambitionen abgehen, spannende Lektüre. Brigitte Werneburg
Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Ausstellungszentrum am Alexanderplatz, Mo.–So. 11–18 Uhr, Do. 11–20 Uhr, Führungen Sa./So. 11 und 14 Uhr, Schulen nach Vereinbarung (Telefon 6154709); bis 9. November
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