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Rücktritt auf Raten: Brie legt Ämter nieder

■ Sonderparteitag wird über Nachfolger entscheiden/ Brie war 19 Jahre IM/ Gysi wußte schon seit zwei Jahren Bescheid

Berlin. Der Erosionsprozeß war lang, qualvoll und ist wohl noch nicht zu Ende: drei Stunden debattierte der Landesparteitag der Berliner PDS am Samstag zunächst über die Konsequenzen aus der Stasi-Mitarbeit des Landesvorsitzenden André Brie. Dann beschloß er, einem Vorschlag Bries folgend, eine Entscheidung auf einen Sonderparteitag zu vertagen und Brie so lange im Amt zu belassen. Wegen dieser Konsequenzlosigkeit verließen zwei Vertreter zweier Bezirksverbände den Saal, drei hohe Funktionäre drohten mit Mandatsverzicht. Nach weiteren drei Stunden dann hatte sich Brie zu seinem Rücktritt als Landesvorsitzender durchgerungen. Heute will er schließlich dem Bundesvorstand seiner Partei auch den Verzicht auf den Posten des stellvertretenden Bundesvorsitzenden anbieten. Er geht davon aus, daß die Parteispitze zustimmt.

Brie hatte Anfang der Woche eine 19jährige Tätigkeit als IM öffentlich eingestanden. Da er dies bei seiner Wahl zum Landesvorsitzenden im Herbst letzten Jahres verschwiegen hatte, hat er gegen den sogenannten MfS-Beschluß der PDS verstoßen.

Der Rücktritt Bries war eine späte persönliche Reaktion auf den massiven Druck einer kleinen Gruppe von Reformern. Die überwiegende Mehrheit des Parteitages wollte keine Auseinandersetzung über die Vergangenheitsbewältigung führen und widersetzte sich erfolgreich einer Debatte. Mehrere Delegierte sahen damit das Ende der Reformphase der PDS eingeläutet.

In der Diskussion über seinen Vize wurde auch der Bundesvorsitzende Gregor Gysi mit der Forderung nach Konsequenzen konfrontiert. Er war, nach eigenen Angaben, bereits im Sommer 1990 von Brie über dessen frühere Tätigkeit für das MfS informiert worden, hatte dieses Wissen aber für sich behalten. Gysi erklärte, er habe Brie geglaubt, daß dieser während seiner 19jährigen Tätigkeit für das MfS niemandem geschadet habe. Er habe unterstützt, daß Brie das Amt des Landesvorsitzenden übernimmt. Dabei sei er davon ausgegangen, daß dieser später seine IM-Tätigkeit offenbart, „in einer Situation, wo er es verkraftet und wo die gesellschaftliche Atmosphäre so ist, daß er es machen kann“. Er habe, so Gysi, sein eigenes Verhalten damals nicht als falsch empfunden, sei aber bereit, dafür Konsequenzen zu ziehen. Er werde sich auf der heutigen Bundesvorstandssitzung dazu äußern. Zugleich eröffnete Gysi den überraschten Delegierten, daß er den im letzten Jahr gefaßten MfS-Beschluß der PDS, nach dem Funktionsträger ihre frühere Stasi-Tätigkeit offenbaren müssen, für falsch halte und er ihn seinerzeit auch nicht mit abgestimmt habe. Durch diesen Beschluß, so Gysi, würde ein Bereich der ehemaligen DDR, die Stasi, herausgehoben, obgleich überall in den Parteien und der Gesellschaft denunziert worden sei. Durch diese Herausnahme der Stasi würden die anderen Bereiche entlastet. Gysi begründete seine damalige Stimmenthaltung damit, daß er nicht in den Ruf kommen wollte, aus Eigeninteresse gegen den MfS- Beschluß zu sein.

Bei einigen Delegierten rief dieses späte Bekenntnis des Vorsitzenden Empörung hervor. Für das ehemalige Mitglied des Landesvorstandes, Ingeborg Uessler Gotho, war es schlicht „der Gipfel“, daß Gysi ohne Widerspruch sagen könne, er habe den MfS- Beschluß immer schon für falsch gehalten, und damit „die Genossen im nachhinein für bescheuert erklärt“. Sie legte deshalb am Samstag ihre Mitgliedschaft nieder. Auch aus den Reihen der Berliner Abgeordneten, die sich entsprechend dem Beschluß offenbart hatten, kam Protest. Der vorherrschenden Stimmung auf dem Parteitag entsprach Sieglinde Schaub vom Landesvorstand, als sie die Delegierten aufforderte, Schluß zu machen „mit dieser Praxis, die schon genug Genossen Schaden zugefügt hat und dem Gegner nur Genugtuung verschafft“.

Der MfS-Beschluß war von Anfang an in der PDS heftig umstritten. Brie hätte bereits nach Bekanntwerden seiner Stasi-Tätigkeit von seinen Funktionen entbunden werden müssen. Das Führungsgremium hatte Brie statt dessen aufgefordert, im Amt zu bleiben. Dieter Rulff

Siehe auch Seite 10

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