Wo Hörern das Sehen vergeht

Notizen einer fernsehsüchtigen Radiomacherin vom Prix Italia 92  ■ Von Elisabeth Eleonore Bauer

Wer Hörspiele macht, der glaubt noch an das Gute im Menschen. Anders ist es mit Leuten, die Fernsehspiele machen: Die glauben an überhaupt gar nichts mehr. So jedenfalls sieht es aus. Wenn man sie dann aber miteinander reden hört, Hemd oben offen und in entsetzlich schlechtem Englisch, auf den Fluren, den Gängen, Diners und Feten beim Prix Italia 1992 in Parma – dann wird doch deutlich: Einige wenige der vielen Manager und Macher der internationalen TV-Mafia, die hier versammelt sind, glauben immerhin noch an die Einschaltquote.

Das ist bitter zu sehen für eine fernsehsüchtige Radiomacherin, die es mehr oder weniger zufällig nach Parma verschlagen hat: wie das Publikum so fast nicht zählt. Wie die tagtäglich sonst sehr verehrten Damen und Herren nicht einmal mehr taktische Verhandlungsmasse sind – ob sie nun gerade zuhören, wie sie gucken, was sie gar denken: Dazu gibt es hier höchstens ein paar zynische Mutmaßungen, wie sie allenfalls die Erfinder des Volksempfängers noch laut zu sagen gewagt haben (etwa die: Der Mensch will betrogen sein). Oder aber, ganz im Gegenteil und viel verheerender: eine Art Museumspädagogik, bieder und bodenständig, die dafür sorgt, daß mit Sicherheit noch dem allerletzten Zufallszapper Hören wie Sehen gründlich vergeht. Fernsehen ist Geschäft. Fernsehfeatures, die in den Wettbewerb gehen, brauchen keine Zuschauer; es reicht, wenn gewisse hauseigene Regeln beachtet werden wie Name-dropping, Trend-watching und der Mut zu frecher Lüge. Sie müssen nämlich wissen, Sie sind hier auf einer Börse, werte Dame. Ach so.

„Überflüssig, langweilig, schlecht konzipiert und katastrophal gemacht“ – so faßt zum Beispiel Stefan Felsenthal (ZDF), in diesem Jahr Vorsitzender der Jury im Bereich TV Music & Arts, das internationale Aufgebot von 21 Kultur-Filmen zusammen. Ob das, was hier gezeigt werde, wahrhaftig das beste sei, was Fernsehen zu bieten habe? Diese Frage, hineingesprochen in eine erstaunlich mäßig beleidigte Expertenrunde, ist natürlich rhetorisch gemeint – und würde sie ernsthaft beantwortet, alle Anwesenden müßten sich auf der Stelle selbstkritisch erschießen. Herr Felsenthal weiß sicherlich sehr gut, daß zum Prix nicht Qualität ins Rennen geschickt wird, sondern das, was die eine oder andere Seilschaft so je nachdem für opportun befindet. Seine Jury-Kollegin Seadeta Midzic vom HTV (Kroatien) spricht lieber gar nicht drüber, erst recht nicht mit der Presse. Sie weiß nämlich: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, und eine Krähe hackt nicht und so weiter.

Frau Midzic fand zum Beispiel „Wat een historie“ (BRTN Belgien) ganz gut; ein Tanzfilm mit zugegeben vielen traumhaft schönen Stellen. Die meisten Schlachtenbummler dagegen fanden sich ein zur Vorführung von „The Making of Sgt. Pepper“ (Independent TV Britannien). Auch ein netter Kulturfilm: ein historisches Feature über die Entstehung einer Platte und einer Mythe, randvoll mit recht anrührenden O-Tönen der greisen Rest-Beatles sowie eines unverdrossen ewig jungen George Martin. Mit dieser Musik immerhin fing, Dank dem Produzenten im Studio, auf nur vier Spuren an, was heute unaufhaltsam vierundzwanzigspurig in den Orkus steuert – das Cross-over von Streichquartett und Snaredrum, von quasi klassischer und sogenannter Unterhaltungsmusik: classic meets rock, I saw a film today, o boy...

George Martin findet das heute immer noch irgendwie ganz irre. Felsenthal seinerseits fand das Hightech-Live-Kunststück „Tosca“ von GPGriffi (RAI Italien) ziemlich gut – doch diese opulente, technisch flächendeckend bunte Opernschlemmerei trat gar nicht erst an zum Wettbewerb. Dafür blieb dann allen – ausnahmslos allen – die Spucke weg, als der Film „Anton Webern“ von Thierry Knauff gezeigt wurde (La Sept, Frankreich; die Erstausstrahlung soll am 25. November '92 stattfinden). Ein nur 26 Minuten kurzer und fast stummer Film ohne Stars und O-Töne, ohne Farbe und (unter Mißachtung sämtlicher Anstandsregeln von Trend-watching und Name-dropping) ohne spektakulären Anlaß. Einfach nur ein Film über einfach nur das Leben eines einzigen weithin immer noch recht unpopulären Komponisten.

Thierry Knauff hat einen Film gemacht darüber, wie die Kunst hilft, ein Leben zu überleben. Wozu auch große Weltkriege gehören (konkret in diesem Falle gleich zwei) und die verlorene Nickelbrille im Schlamm des Schützengrabens sowie weitere Gemeinplätze aus den Niederungen linken Kitsches. Wozu aber auch blinde Augen und kurze Hände gehören, die auf der Klaviertastatur nach den richtigen Tönen suchen. Friedenstauben am Himmel, die mutieren zu wirbelnden, glühenden Papierfetzen in der dunklen Nacht der Bücherverbrennung. Frauenchormünder, die grausam falsch Wahrheiten singen. Offene Türen, geschlossene Gesellschaften – kein Wort, keine Geste zuviel. Aber dafür eine Fülle heimlicher Botschaften, die zu entziffern den Freunden Anton Weberns gewiß ein intellektuelles Vergnügen, die aber doch auch als Zeichen für sich genommen schon vergnüglich genug sind, daß selbst diejenigen, die Webern noch nicht kennen und lieben, Lust bekommen an seiner Musik. Das ist viel. Das ist mehr, als Kulturfilme gewöhnlich bringen: Information, Dokumentation und ästhetische Formvollendung. Kritik, Geschichte und Unterhaltung. Alles in einem und einer für alle: Knauff hat damit den Prix Italia 92 gewonnen in dieser Kategorie. Er hat damit außerdem dafür gesorgt, daß der Spezialpreis heuer von der Jury verweigert werden mußte. Denn dieser Film löst als einziger ein, was alle anderen nicht einmal mehr versprechen: Erstens ist er seinem Sujet in Liebe zugetan und weiß dies auch umzusetzen und zweitens, was noch viel wichtiger und in dieser Branche wahrhaftig außergewöhnlich ist: Dieser Film rechnet mit der Intelligenz seiner Zuschauer.

Im Bereich „Dokumentarfilm“ dagegen siegten wieder einmal die Vertreter des subtilen Zynismus: diejenigen, die auf die stumpfe Blödigkeit des Durchschnittsglotzers setzen und mit der Kamera draufhalten, egalweg, wo immer auch die journalistische Schlagzeile zu lauern scheint: Blut oder Schweiß, Tod und Tränen – alles hautnah und knüllerrot. Mit dem Prix prämiert wurde hier der Pseudo-Amateur-Film „War Lives & Videotapes“ (BBC Britannien), der möglichst viel Krieg so direkt, wie's nur geht, und dekoriert mit purer Betroffenheitslyrik ins Pantoffelkino bringt: fallende Bomben, sterbende Kinder und zum Abspann eine doppelte Dosis Moral. Der Spezial-Prix in der gleichen Kategorie (TV-Documentary) ging entsprechend an eine schwüle Lovestory von der Art, wie sie (jedenfalls predigt es so die Regenbogenpresse) nur „das Leben“ selbst schreiben kann: ein Fotoroman, ins Laufen gebracht, nachgestellt, voyeuristisch in jede Herzenskammer nachspioniert und deshalb garantiert gefühlsecht („Les Amants d' Assises“ von RTBF, Belgien).

Ganz anders geriet die Begegnung mit dem Krieg im Radio. Gerade unbebildert stellen sich jene Alptraumbilder ein, die Widerhaken ins Gedächtnis schlagen. Gerade da, wo das Faktische nicht eins zu eins abgekupfert werden kann, sondern eins zu zwei oder drei das Artefakt gefragt ist, kann daraus eine Realität der dritten Art werden. Zum Beispiel in dem etwas hilflos als „Dokumentar- Oratorium“ bezeichneten Feature „Förut log här en by“ von Etienne Glaser und Sven-David Sandström (SR/RR Riksradio, Schweden): „Hier war einmal ein Dorf“. Ein kurdisches Dorf, wie so viele ausradiert nach irrationaler Kriegslogik– und für immer aufgehoben in dem entsetzten authentischen Zeugnis eines an den Massakern zwangsweise beteiligten türkischen Sergeanten. Eine Geschichte, die nur nacherzählt wird und nicht viel mehr: mit extra dünner Dramaturgie; mit wenig Geräusch (bloß ein Gong, ein bißchen Papierrascheln, etwas Hundegebell); mit komponierter Musik (die angst macht) und einer ausgeklügelten Gesamtkomposition (die das Geschehen so nüchtern nahebringt, als passiere dies alles eben jetzt, und ich stünde dabei. Und kann nichts tun.). Kurz: ein Hörstück, bei dem sich das Radio nicht mehr abschalten läßt. Und das wohl gewiß einen Prix Italia gewonnen hätte, wäre es nicht in der falschen Kategorie eingereicht worden.

Die schwedischen Reichsradio- Macher hatten sich mit ihrem Beitrag verirrt in die Abteilung „Musik“; und dort ist weniger Sinn gefragt, sondern pure Form plus Tiefsinn. So etwas wie die „Sensiblen Sätze“ zum Beispiel, die einige ehrgeizige Experimentaltüftler

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von Radio Slovenija vermutlich eigens für diesen Wettbewerb ausgebrütet hatten: eine mit viel soundtechnischem und bildungsbürgerlichem Schnickschnack aufgetakelte Reflektion über den Begriff des „Requiem“ – und zwar ein Totengedenken à la Ljubljana, das mit dem tagtäglichen Tod in Sarajevo eineinhalb neue Grenzen weiter absichtsvoll nichts mehr zu tun haben will. Rund 22 Minuten lang, mit einem Aufwand von über hundert Stunden Studiozeit produziert, einmal abends ausgestrahlt und gehört von nur – ach, fragen wir lieber nicht näher nach. Radio Slovenija sucht mit aller Macht den internationalen Anschluß. Es hat dazu seine Wettbewerbsbeiträge für den Prix Italia auf eine CD gepreßt und sie sogar teilweise extra noch einmal in der Weltsprache Englisch nachproduziert. So viel schöne Energie zum Fenster hinausgeworfen! Und so viel Lärm – um nichts und wieder nichts!

Auch andere Radiosender haben offenbar extra für den Prix Italia produziert. Der alljährliche Gastgeber RAI zum Beispiel: in der Kategorie Hörspiel ein Stück, das gar „Prix“ heißt und nur vom Prix handelt. In der Kategorie „Musik“ dagegen eine faszinierende elektronische Klangorgie („In Cielo, in terra, in mare“, zur Ursendung vorgesehen für November '92) – in der wieder einmal die Mythen nur so wüten. Und die am Ende wieder einmal einmündet in jene beliebte minimalistisch-meditative Pendelbewegung, die stets wirkt wie ein selbstironischer Kommentar zu den grassierenden Hospitalismus-Erscheinungen des Genres: einmal hin, einmal her, einmal im Kreis herum und in den Schwanz gebissen. Avantgarde- Musikprogramme, wie sie beim Prix gefragt sind, haben etwas beinahe unanständig Inzüchtiges. Viele, so scheint es, werden nur gehört von denen, die sie produzieren. Und werden produziert nur für eine Handvoll verständnisinniger Freunde. Für diese Radiomacher ist der Prix Italia so etwas wie ein Familientreffen. Sie zehren vom Glanz der guten alten Zeit, in der das Radio noch eine Rolle spielte als Förderer zeitgenössischer Musik. In der es überhaupt noch eine tragende medienpolitische Rolle spielte. Als auch der Prix Italia gerade begründet wurde, weiland 1948; noch ein reiner Radiokunst-Preis, denn vom TV war damals noch niemand in Sicht.

Akustische Radiokünstler heute hocken mit ihrer Sache nur noch in Nischen. Sie sitzen sowieso schon im Elfenbeinturm. Und wenn sie sich dann noch ins oberste Stockwerk versteigen und dort aus der Dachluke lehnen, dann sind sie so weit entfernt vom Boden der Wirklichkeit, daß ein Wimpernzucken schon Harakiri werden kann. Was er beim Prix zu hören kriege, sagt Mr. Pieter Andriessen von Head Radio 3 (Belgien), der in diesem Jahr als Jury-Mitglied in der Kategorie „Musik“ amtierte, das sei „absolut nicht repräsentativ für den Radioalltag“. Diese Worte klingen ähnlich denen des TV-Machers Felsenthal; aber der klagt über mangelnden Kunstcharakter der TV-Produktion – der Radiomacher dagegen klagt, daß die eingereichten Radio-Produktionen künstlerisch zu hoch hängen: „Das Problem sind die Hörer“, sagt Andriessen und lacht. „Wenn man dieses Stück zum Beispiel nicht hören kann ohne eine Einführung dazu; eine Partitur, ja, das wäre noch besser. Wenn man als Hörer nur ahnen kann, was man da hört. Und wenn eigentlich immer extra dazu erklärt werden muß, was man hört, am besten schriftlich. Dann ist das natürlich nicht gut fürs Radio!“ Dann ist das aber vielleicht gute Literatur. Dieses Stück, von dem Mr. Andriessen da gerade so liebevoll ironisch spricht – dem hat er selbst soeben in seiner Eigenschaft als Juror den Musik-Spezial- Preis des Prix Italia '92 verliehen. Dieses Stück hat außerdem auch noch kürzlich den Szucka-Preis der Donaueschinger Musiktage erhalten. Es heißt „Schliemanns Radio – 10 Protokolle“, wurde eingereicht von der ARD/Hessischer Rundfunk, hatte seine Ursendung im Mai dieses Jahres und wurde komponiert von dem bewährten Radio-Preis-Träger Heiner Goebbels. Auch „Schliemanns Radio“ ist ein Hörstück, das sich tief in die Mythen eingräbt – aber mit erquickend viel Sinn für die Situationskomik, die darin liegt, wenn sich wer zu ernst nimmt. Außerdem handelt es sich in der Tat um ein Ausgrabungsstück. Es geht um Heinrich Schliemanns pedantische Jagd nach dem antiken Troja. Da klirren die Scherben, da raschelt die Forscherfeder, da staubt laut das akribisch geführte Grabungstagebuch – die trojanischen Frösche quaken und die Berliozsche Kassandra klagt, bis hin zur seismographischen Erschütterung der Grundübel. Schicht für Schicht trägt Schliemann die Erdmassen über den diversen Trojas ab, Stück für Stück trägt Goebbels seine feinsinnig aufgeklärte Auseinandersetzung mit den Irrtümern der Historie vor. Das wird zwar nie langweiilg, aber manchmal doch anstrengend. Je öfter gehört, desto größer das Vergnügen. Ein Radiostück also, das nicht im Radio, sondern auf Kassette vertrieben gewiß am besten kommt.

Radiokünstler schaffen, der Flüchtigkeit ihres Mediums zum Trotz, immer noch Werke wie für die Ewigkeit. Die sind, je nachdem, in 22 sec. oder auch 1 h 30 sec. verhallt, und das oft genug ungehört. Hörspielmacher halten, obgleich die Literatur selbst längst vom medialen Zirkus bis auf die Knochen korrumpiert ist, am verstaubten Ideal literarischer Qualität unbeirrt fest. Kann sein, das ist paradox. Aber richtig und rührend bleibt es doch. Vielleicht sind die Hörspielmacher sogar die letzten ihrer Art und verdienen es, gehegt und gepflegt und vor Stellenkürzung und Postendrängelei beschützt zu werden – wie andere aussterbende Gattungen auch. „Der Prix Italia“, sagt Heiner Goebbels, „hilft der Radiokunst dabei, in der Nische zu überleben.“ Hörspielmacher glauben, wie gesagt, noch an das Gute im Menschen.