: Japan ist seit dem unrühmlichen Abgang Shin Kanemarus Mitte Oktober so gut wie führungslos. Zwar hat die regierende LDP gestern den eher unscheinbaren Keizo Obuchi zum neuen Fraktions- chef bestimmt. Hinter den Kulissen jedoch geht der Machtkampf weiter. Aus Tokio Georg Blume
Schattenfiguren statt definitiver Wachablösung
Wer spricht schon von Ichiro Ozawa und Keizo Obuchi (55), während die beiden Kontrahenten im US-Wahlkampf, George Bush und Bill Clinton, weltweit für Schlagzeilen sorgen? Im Westen nahezu unbemerkt jedoch vollzieht sich zur selben Zeit in Japan ein Machtkampf, wie ihn die zweitstärkste Wirtschaftsmacht der Welt seit Jahren nicht gesehen hat. „Wir haben Glück, daß sich die Welt gerade auf die Wahlen in Amerika konzentriert und keine Zeit für Japan hat“, freut sich denn auch Ex- Finanzminister Ryutaro Hashimoto. „Wenn es in Amerika heute ruhig wäre, würde es jetzt viel Kritik an Japan und seinen Politikern geben.“ Damit deutet Hashimoto bereits an, daß der Machtkampf hierzulande nicht auf so klare, demokratische Weise entschieden wird wie am 3.November in den USA. Doch ähnlich wie dort findet in Japan derzeit ein Kampf um die Neubesetzung des wichtigsten politischen Amtes statt – und um einen Generationswechsel an der Spitze.
Mit demokratischen Wahlen hat das freilich nichts zu tun. Da die Liberal-Demokratische-Partei (LDP) seit 1955 alle wichtigen Wahlen mit absoluter Mehrheit gewinnt, geht es in Japan nicht etwa um die Frage „Wer gewinnt die Wahlen?“, sondern vielmehr „Wer regiert die Partei?“ Bis Mitte Oktober gab es an der Antwort darauf nicht den geringsten Zweifel: Der 78jährige Vorsitzende der LDP-Fraktion im Parlament, Shin Kanemaru, hatte Partei und Nation fest in der Hand. Alle wichtigen Entscheidungen, vom japanischen Beitrag für den Golfkrieg bis zur Kaiser-Reise nach China, lagen in letzter Instanz bei ihm. Parteiinterne Kritik am Fraktionsvorsitzenden existierte nicht.
Doch dann mußte Kanemaru überraschend zurücktreten. Aufgrund einer illegalen Parteispende, die er 1990 von dem mutmaßlich mit der Mafia kooperierenden Paketdienst Sagawa Kyubin angenommen hatte, mußte er alle politischen Ämter räumen. Japan, das unter Federführung Kanemarus alle Regierungskrisen der letzten Jahre sicher gemeistert hatte, stürzte von einem Tag auf den anderen in eine Führungskrise.
Kein Ende des Machtkampfs ohne echten Nachfolger
So ging es nach dem Rücktritt Kanemarus Schlag auf Schlag: Zuerst meldete Ichiro Ozawa, Kanemarus politischer Zögling, seinen Anspruch auf den Fraktionsvorsitz an. Der Kampf um diesen Posten, der bislang stets vom mächtigsten Mann der Partei bekleidet wurde, entwickelte sich schnell zum Streit um die Parteiherrschaft. Ozawa, der sich unter Kanemaru innerparteilich den Ruf eines Diktators erworben hat und als konservativer Reformer gilt, stieß in der Fraktion auf mehr Widerstand als erwartet. Nach tagelangen Rangeleien unter den Fraktionsältesten, die traditionell den Fraktionschef bestimmen, zog Ozawa seine Kandidatur zurück und nominierte an seiner Stelle den politisch eher unscheinbaren Finanzminister Hata.
Doch inzwischen hatte sich die Fraktion der LDP bereits in zwei etwa gleich starke Lager gespalten. Die Gegner Ozawas, die von dem gemäßigten Hashimoto und seinem Schutzherrn, dem ehemaligen Premierminister Takeshita, angeführt werden, rüsteten sich zur Verteidigung des Status quo; sie stellten einen Gegenkandidaten auf, den ebenfalls unscheinbaren früheren Generalsekretär der Partei, Keizo Obuchi. Der Machtkampf unter den Liberaldemokraten hatte also dazu geführt, daß statt eines wirklichen Nachfolgers für Kanemaru nur noch zwei Schattenfiguren ins Rennen gingen. Am Wochenende fiel dann die Vorentscheidung: Die Parteiältesten nominierten Keizo Obuchi als neuen Fraktionschef. Doch die Anhänger Ozawas im Ältestenrat nahmen an der entscheidenden Sitzung schon nicht mehr teil. Ozawa selbst erklärte die Nominierung seines Gegners für ungültig. Die gestrige Vollversammlung der Fraktion, an deren Abstimmungen die Anhänger Ozawas erneut nicht teilnahmen, bestätigte die Wahl der Ältesten zwar offiziell, doch der Machtkampf ist so lange nicht ausgestanden, wie Kanemaru keinen wirklichen Nachfolger gefunden hat.
Tatsächlich gibt es in der 37jährigen Regierungszeit der LDP nur einen Präzedenzfall, wo Teile der Partei so offen und unversöhnlich um die Parteiführung rangen. Im Jahre 1974 mußte Japans Premier Tanaka im Zuge der Lockheed- Affäre zurücktreten, weil er Bestechungsgelder von der US-amerikanischen Flugzeugfirma angenommen hatte. Damals versuchte ein Parteiflügel zu revoltieren. Doch Tanaka brach den Widerstand und konnte bis zu seinem Schlaganfall 1985 als Fraktionschef im Hintergrund weiterregieren. Auf Tanaka folgte dann Kanemaru, ohne daß es zu einer Führungskrise in der Partei kam. Heute geht es also um die zweite große Wachablösung innerhalb von zwei Jahrzehnten. Ideologische Gegensätze spielen dabei eine eher geringfügige Rolle – es geht um Stilfragen. Kanemaru genoß schon aufgrund seines hohen Alters große Autorität. Der immer noch denkbare Wechsel zu einer jungen Führerfigur wie Ozawa, der eine von den Parteiältesten unabhängige Politik verfolgt, könnte die politische Hierarchie des Landes umkrempeln – und die japanische Politik unberechenbar machen.
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