Standbild
: Ohnmacht

■ "Die Glatzen von Spremberg", Die., 21.30, ARD

„Die Glatzen von Spremberg“, Die., 21.30 Uhr, ARD

Mein Freund Gerhardt ließt Fahnenkorrektur bei Suhrkamp. Neulich abends saßen wir bei „Rocco“, und Gerhardt berichtete von der Wiederherausgabe eines Karl-Kraus-Buchs über den Faschismus. Anhand vieler Beispiele erklärte Gerhardt, wie der ansonsten überaus sprachgewandte und treffsicher bissige Kraus angesichts des Hitlerfaschismus geradezu von einer Sprachlähmung heimgesucht worden wäre. Folgerung: Wenn selbst die besten Denker kapitulieren müssen, dann ist Faschismus ein Angriff auf die Sprachlichkeit selbst, ein Angriff auf eine vorausgesetzte und normalerweise nicht mehr reflektierte Weise der Verständigung.

Genau diese Suspendierung der Sprachlichkeit konnte man in einer Sequenz von C. Läpples und W. Münstermanns Langzeitbeobachtung „Die Glatzen von Spremberg“ beobachten. Der sich ausdrücklich zum Hitlerfaschismus bekennende Sven, der in Spremberg ein Asylheim angesteckt hat, kommt direkt nach der Urteilsverkündung vor die Kamera. Auf Fragen nach seiner Gewaltbereitschaft und ob er weitermachen würde, antwortet Sven kühl und sachlich. In diesem Moment, da der Interviewer sich wadenbeißerisch in Szene setzen wollte, entwischt Sven – ohne dies beabsichtigt zu haben – der Gewalt des Mediums.

Der Interviewer und mit ihm der Fernsehzuschauer bekam die Frage nach der Gewaltbereitschaft von Sven buchstäblich zurück in den Hals gestopft. Durch die Präsenz der Kamera wurde die Frage in der Gegenwart der ganzen Öffentlichkeit gestellt. Diese Gewalt des Mediums funktioniert normalerweise als moralische Überich-Instanz. Wer sich im Rahmen der Konvention der Menschlichkeit bewegt, reagiert auf die Gegenwart der Überich-Kamera mit Legitimationszwang. – Die anderen Nazis haben sich z.B. das Gesicht verdeckt.

Nicht jedoch Sven. In seinen Augen funkelte nicht einmal Haß, keine Leidenschaft. Nur kalte Entschlossenheit, die er in knappen Sätzen vortrug. Die Frage nach der Gewaltbereitschaft unterstellt beim Befragten ein Unrechtsbewußtsein. Die sachlich souveräne Reaktion Svens bestätigt, daß er genau dieses Unrechtsbewußtsein nicht (mehr?) hat. Da gibt es keine inneren Widersprüche mehr, weil Widersprüche ein moralisches Empfinden voraussetzen, welches die moralische Gewalt der Kamera dann erst zu entlarven vermag. Doch hier wurde das Gegenteil sichtbar: Das Medium Fernsehen kollabierte. Die unfreiwillige Aussage des ganzen Films ist daher nur – analog zum Fall Karl Kraus vs. Hitler – das Dokument der Ohnmacht der moralischen Vernunft.

Gerhardt und ich sind mittlerweile beim vierten Glas, und im Suff beschließen wir, daß wir den Nazis auf die Fresse hauen, wenn sie kommen. Damit haben wir genau den Bürgerkrieg, für den Kühnen-Nachfolger Gottfried Küssel seit geraumer Zeit rüstet. Manfred Riepe