■ Brasilianer übernehmen Baumpatenschaft in Frankfurt: Orixa haust im Rhein-Main-Gebiet
Frankfurt (taz) – Sollte der brasilianische Regenwald eines Tages mit Stumpf und Stiel der Vergangenheit angehören, werden einige von uns zumindest noch das Zertifikat besitzen, das von seiner Anwesenheit gezeugt hat: die Baum- und Waldpaten nämlich, die in Hektar zu rechnende Grundstücke in Brasilien der Holzspekulation entrissen haben, mit Geld und aus Solidarität. Gegen diese nur einseitige Solidarität gingen soeben Proteste ein. Das brasilianische Volk, so war zu hören, möchte sich nicht länger als Objekt der Armut, der Solidarität und der dubiosen Ökogipfel fühlen. Es gehöre ebenso wie die Deutschen zum Weltbürgertum und besitze damit dieselbe Verpflichtung, in ökologisch weltweiten Zusammenhängen zu denken und zu handeln.
Konkret, die Brasilianer haben soeben eine Baumpatenschaft für das Gelände der Frankfurter Startbahn West angetreten. Auch der Mainzer Sand, das letzte Steppengebiet Zentraleuropas, steht ab sofort unter brasilianischem Schutz. Eine Delegation aus Rio de Janeiro bereiste das Gelände und trug ihr sehr eigenes Scherflein zum großen Naturraubbau bei – nicht mittels symbolischer Geldspenden, sondern eines symbolischen Rituals. Der Waldgott Orixa (sprich: Orischá) haust seit Mittwoch in den Waldschneisen und verkarsteten Steppengebieten des Rhein-Main-Gebiets. Mit Speiseopfern und Tänzen wurde er herbeigezaubert. Eine Sanduhr im Mainzer Sand repräsentiert ihn ebenso wie ein menschlich anmutendes Skelett aus dürren Ästen an der Startbahn West.
Initiator dieser ökoreligiös anmutenden Aktion ist niemand anders als der Gründer des „Unsichtbaren Theaters“, Augosto Boal. Der heute in Rio als Politiker tätige Regisseur finanziert seine Götter aus dem Kulturfonds, die über Gewerkschaftsgruppen und Ökobewegungen in alle Welt reisen. Boal, der südamerikanische Brecht, der in den Favelas, bei Analphabeten und Aidskranken durch Theater Erstaunliches in Sachen Aufklärung erreicht, setzt sein „unsichtbares Theater“ mit solchen Aktionen konsequent fort.
Verstand man in den Siebzigern unter „unsichtbarem Theater“ eine Provokation auf der Straße durch Schauspieler, die sich als Passanten ausgaben und mitten auf der Hauptverkehrsstraße nach Stockholm zur Stoßzeit gegen den Wahnsinn des automobilen Pendlerverkehrs protestierten, indem sie auf der Straße frühstückten, so ist heute das Unsichtbare perfekt geworden: ein weiß Gott unsichtbarer Waldgott protestiert völlig unsichtbar gegen das immer sichtbarer werdende Waldsterben. Arnd Wesemann
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