■ Die deutsch-türkischen Beziehungen brauchen Zivilität
: Von Nutz- und Schutztürken

Ob die Vereinigten Staaten von Europa je Wirklichkeit werden, steht in den Sternen. Wenn auf dem Weg dahin der Maastrichter Vertrag in Kraft tritt, bekommen sogenannte EG-Ausländer das Wahlrecht in Städten und Gemeinden. Das ist zwar eine schöne Lektion für die Mehrheit unserer Staatsrechtler, Verfassungsrichter und Gesetzgeber, die stur auf dem Exklusivrecht des deutschen Volkes bestehen. Aber diese überfällige Reform durch die Brüsseler Hintertür schlägt anderen das Tor nach Europa vor der Nase zu: Während sogar die britischen und dänischen Europamuffel demnächst in Köln oder Cottbus kommunale Fragen mitentscheiden, werden nicht nur die Norweger oder Polen, sondern auch Einwanderer aus der Türkei, Nordafrika und dem ehemaligen Jugoslawien ausgeschlossen. Um es zuzuspitzen: Ein heimatverbundener Grieche, der nur für ein paar Jahre in einem EG-Land lebt, darf künftig wählen, eine in Deutschland geborene Türkin nicht.

Vor genau einunddreißig Jahren wurde das deutsch-türkische Anwerbeabkommen geschlossen, in dessen Folge mehrere Hunderttausende Menschen aus allen türkischen Landstrichen nach Deutschland kamen, unterdessen bald zwei Millionen. Viele wollen bleiben – wenn sich die Situation nicht weiter verschlechtert. Denn auch die Deutsch-Türken, die ihr mulmiges Gefühl bei der deutschen Vereinigung tapfer bekämpft haben, sind mittlerweile Zielscheibe des gewalttätigen Rassenhasses. Auch in Ostdeutschland sind sie auf dem vorletzten Platz der Beliebtheitsskala gelandet, vor den noch verhaßteren Zigeunern, obwohl es in der Ex- DDR nur ein paar Dutzend Edel- Türken gegeben hat und jetzt unerschrockene deutsch-türkische Unternehmer im wilden Osten Arbeitsplätze in Aussicht stellen.

Im Osten gehen also nicht mal mehr die „Nutztürken“ durch. So könnte man jene Türken nennen, die sich dem D-Mark-versessenen Volk als Investoren und Konsumenten anpreisen: 5,7 Milliarden Mark haben Deutsch-Türken 1990 investiert, wodurch 150.000 Arbeitnehmer, darunter immerhin ein Drittel Deutsche, bei einem türkischen Arbeitgeber ihre Brötchen verdienen können. Die jährliche Kaufkraft der Türken wird nach jüngsten Erhebungen auf 50 Milliarden Mark geschätzt; als Autokäufer, Schokoladenesser, Bausparer und Aldi-Kunden sind deutsch-türkische Haushalte (mit durchschnittlich 4,4 Personen und 3.650 Mark Monatseinkommen) absolute Spitze. Und als Einzahler in Renten- und Sozialkassen helfen sie einem kranken Volk auf dem Aussterbeetat auf die Beine. All das will sagen: Wir sind keine Schmarotzer, wir machen uns um die deutsche Wirtschaftsnation verdient. Ich fürchte, diese Bilanzen und Rechnungen verfangen wenig bei Leuten, die ethnische Reinheit über wirtschaftlichen Eigennutz stellen, wie überhaupt ökonomische Vernunft ganz leicht in blanken Sozialneid abrutscht. Denn nichts fürchten die fußkranken Deutschen mehr als agile und risikofreudige Einwanderer.

Nicht besser geht es den „Schutztürken“, unseren bewährten Waffenbrüdern im Vorderen Orient, auf die die famose türkische Deutschfreundlichkeit immer noch baut. Auch heute gilt westlichen Strategen der starke Mann am Bosporus als verläßliches Bollwerk gegen irakische Hasardeure und iranische Gotteskrieger. Da wird auch schon einmal ein Auge zugedrückt bei nicht ganz legalen Exporten von Flugzeugen, Panzern und anderen Waffen, die sich gegen die kurdische Bevölkerung richten und by the way auf irakischem Gebiet eingesetzt werden. Aber auch diese Bündnistreue (und nebenbei deutliche Demokratiefortschritte) haben die Türkei der EG keinen Deut nähergebracht. Im Gegenteil: Sie muß nun erleben, wie alle möglichen Anwärter an ihr vorbeiziehen. „Kleinasien“ wird abgelegt. Das christliche Europa macht wieder mal dicht gegen den Islam.

Man möchte sich wirklich irren, wenn einen die Nutz- und Trutzbekundungen der Deutsch-Türken an die vaterländischen Bekenntnisse assimilierter deutscher Juden vor 1933 erinnern, die ihre Eisernen Kreuze ausbreiteten und ihren Beitrag zur deutschen Kultur und Wirtschaftskraft vorwiesen – und grausam quittiert bekamen. Ich möchte mich auch sehr täuschen, daß man sich angesichts der hartnäckig verweigerten Einbürgerung der Türken in Europa auf Gewinne der islamischen Integristen einstellen muß, gerade unter den enttäuschten deutsch-türkischen Eliten, und auf die gewalttätige Gegenwehr aus der zweiten und dritten Generation, die kaum in christlicher Demut auch noch die andere Wange hinhalten wird. Aber die beiläufigen Meldungen im Lokalteil, über die Schulhofschlägerei hier und den blutigen Streit deutscher mit türkischen Nachbarn dort, oder die mulmige Stimmung im Fußballstadion, wenn schlechte Verlierer türkische Fahnen abbrennen, sind deutliche Zeichen an der Wand.

Warum haben die Türken nur in agonalen Szenarien der wirtschaftlichen Konkurrenz und des Krieges Platz, als Nutz- und Schutztürken eben, und nicht endlich als gleichberechtigte Bürger dieses Landes und Kontinents? Bis weit in die Mitte und die liberale Linke hinein weigert sich die deutsche Gesellschaft, Türken als Europäer überhaupt zu denken und zuzulassen – weder als laizistische Republik noch als Kultur- und Sprachgemeinschaft islamischer Provenienz; gerade die gebildeten Kreise verweigern Türken den Rang, den sie Franzosen, Engländern, Dänen oder Russen einzuräumen bereit sind. Viele Türken beginnen ihr Interesse an Europa zu verlieren und sich ausschließlich dem Orient zuzuwenden. Und die Deutsch-Türken werden zwischen den Fronten stehen.

Man muß nicht warten, bis sich auch diese Versäumnisse der deutschen Innen- und Außenpolitik katastrophal auswirken. Die Türken im In- und Ausland warten dringend auf ein politisches Signal, das mehr verspricht als ein Fleißkärtchen für Jungmanager und ausrangierte NVA-Panzer für die Nato- Flanke. In Frankreich ist ein Gesetz auf dem Weg, das Nicht-EG- Ausländer, vor allem Nordafrikaner, nach längerem Aufenthalt als Wahlbürger gleichstellt. Überdies gelten in vielen EG-Staaten sehr viel einfachere Einbürgerungsbestimmungen; auch die doppelte und mehrfache Staatsangehörigkeit wird toleriert. Wer jetzt ein universelles Menschenrecht auf Asyl zur Disposition stellt, muß wenigstens diese bürgerrechtliche Innovation zulassen. Bonn kann also sehr rasch und konkret etwas tun; der Bundestag kann das kommunale Wahlrecht so ins Grundgesetz einschreiben, daß es alle Bewohner von Staaten genießen, die dem Europarat (oder der KSZE) angehören, nicht nur der EG – Stoff für ein parteiübergreifendes Bündnis, das eine weitere Spaltung in Ausländer erster und zweiter Klasse verhindert. Für Europa – ja sicher! Aber in den Vereinigten Staaten von Europa mit türkischen Söldnern und algerischen Heloten möchte ich nicht leben. Claus Leggewie

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft in Gießen. Im Frühjahr erscheint: „Alhambra · Der Islam im Westen“ (Reinbek).