■ Gastkommentar: Verfassungsgesetzgebung unter dem Diktum der Brandstifter — die Notstandsritter der CDU
: Das verheerende Spiel mit dem Verfassungsbruch

Wenn in Deutschland die Rede vom „Staatsnotstand“ ins Spiel gebracht wird, sollten bei allen Bürgerinnen und Bürgern der Republik die Alarmglocken läuten — ganz gleich welcher politischen Richtung sie sich zurechnen. Denn die Metapher vom Staatsnotstand signalisiert untrüglich, daß die Not der herrschenden Politik ein Maß erreicht hat, das in Regierungskreisen an Verfassungsbruch denken läßt.

Im neuen Spiegel wird ein namentlich nicht genannter Mitarbeiter Kohls mit der Äußerung des Kanzlers zitiert, bei einem „Staatsnotstand“ in Sachen Asyl müsse die Regierung im Interesse des Staates auch Mittel einsetzen dürfen, die nicht mehr verfassungsgemäß sind. Bild am Sonntag will in Erfahrung gebracht haben, daß erwogen werde, alle geplanten Maßnahmen gegen Asylbewerber mit der einfachen Mehrheit der Koalition als Bundesgesetz zu verabschieden, beispielsweise besagte Länderlisten. Das ganze Unternehmen wird von Johannes Gerster (CDU), einer wahrlich traurigen Gestalt der „inneren Sicherheit“, mit der grandiosen Sprachschöpfung „Asylsicherungsgesetz“ verbrämt.

Soweit die Meldungen des Wochenendes. Immerhin dementiert die Regierungssprecherin die vom Spiegel kolportierte offene Drohung mit dem Verfassungsbruch: ein winziger Lichtblick im Notstandstheater, der einzig dem Überlebensinteresse der Regierung geschuldet sein dürfte.

Im Klartext liest sich die Katastrophenstrategie der Union so: ohne Verfassungsänderung keine Eindämmung der „Asylantenflut“, ohne SPD (weil Sperrminorität) keine Verfassungsänderung, bei fehlender politischer Willfährigkeit der SPD daher Einschränkung oder Abschaffung des Asylgrundrechts notfalls auch ohne Verfassungsänderung, also durch einfaches Bundesgesetz, das die Verfassung ein wenig strapaziert — Not kennt kein Gebot.

Wenn die Regierung Kohl mit irgendeinem politischen Schachzug die um das Asylrecht streitenden Sozialdemokraten politisch zu erpressen sucht, ist das zunächst einmal das Problem der SPD. Sie mag sich ihrer Haut selbst wehren, so gut sie kann. Wenn indes die Regierung einer politisch widerspenstigen Opposition mit dem blanken Verfassungsbruch droht, steht die allgemeine Geschäftsgrundlage der Republik zur Disposition.

Daß das Gerede vom Notstand wenigstens mit Eventualvorsatz den Verfassungsbruch billigend in Kauf nimmt, liegt auf der Hand. Warum sonst sollte man der SPD den Gang nach Karlsruhe zynisch anempfehlen? Die Regierung steht offensichtlich im Begriff, es mit ihrem „Asylsicherungsgesetz“ darauf ankommen zu lassen. Das ist politisch verroht.

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, so das berüchtigte Diktum Carl Schmitts, des alerten Notstandskenners und -könners. Jener Ausnahmezustand unterscheidet sich von der „Normallage“ gerade dadurch, daß angesichts beschworener übermächtiger Sachzwänge die Fesseln des Rechts abgestreift werden und ungebundene Staatsgewalt radikalisiert wird. Ein vorübergehend rechtloser Zustand, der „Normalität“ durch den Einsatz stummer Gewalt erzwingt. Politik in Deutschland hat sich noch nicht vollends aus dem Gravitationsfeld dieses Denkens befreit.

Lauschangriff auf Klaus Traube und die RAF-Gefangenen wie auch ihre Verteidiger in Stammheim, vorweggenommene Kontaktsperre schon vor Verabschiedung des ermächtigenden Sondergesetzes: auch hier wurde mit der vermeintlichen Staatskrise gefuchtelt und der Verfassungsbruch in der Rechtsfigur des „übergesetzlichen Notstands“ bemäntelt. Es ist bezeichnend, daß in Deutschland, wo das Grundgesetz als beste aller nur denkbaren Verfassungen stets moralisierend verklärt wird, die Verfassung im „Ernstfall“, wenn es konkret auf die ankommt, so wenig gilt.

Die Republik hat quälend lange Wochen und Monate der angeheizten Asyldiskussion erlebt. Wir haben geirrt, wenn wir glaubten, Verfassungsgesetzgebung unter dem Diktat der Brandstifter, das sei nicht mehr steigerungsfähig. Heute müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß die Steigerungsformel des regierungsamtlichen „Ausländer raus!“ lautet: die Verfassung der Freiheit ist gut, aber wenn „Not am Mann“ ist, geht es auch mal ohne. Das ist die wahrlich verheerende Botschaft, die insbesondere in Ostdeutschland die schwachen Keime der „Zivilgesellschaft“ zu vergiften droht.

Durch alle Wirren der parteipolitischen Scharmützel hindurch muß jedweden Inhabern von Staatsgewalt in Deutschland ebenso hartnäckig wie besonnen und kompromißlos eingebleut werden, was der sozialdemokratische Jurist Adolf Arndt so auf den Begriff brachte: „Es gibt keine Staatsräson unabhängig von der Verfassung.“ Wer dagegen schon bei Problemen mittleren Kalibers den Notstand imaginiert und sich nur jenseits der Verfassung „handlungsfähig“ wähnt, hat in Regierungsämtern nichts zu suchen. Horst Meier

Jurist und Autor, lebt in Hamburg