■ Das eine tun, das andere nicht lassen: Sowohl in Bonn als auch in Berlin demonstrieren!
: Aufruf an die Zweifelnden

Alle die, die schon lange Zeit und ohne Unterstützung von CDUSPDFDP, im Gegenteil gerade wegen deren Politik Flüchtlingsarbeit machen (müssen), haben recht: Es braucht eine große Demonstration zum Erhalt des Art.16 am 14.11. 92 in Bonn.

Den Sozialdemokraten tut am Vorabend ihres Bundesparteitages eine politische Aufforderung not und hoffentlich gut.

Aber! Es brennt in Rostock, Sachsenhausen und Ravensbrück; in Kneipen wird mit scharfen Waffen rumgefuchtelt, Menschen werden mißhandelt, gequält, in Lebensgefahr gebracht in Quedlinburg, Rostock und an vielen anderen Orten; in Eberswalde wird einer umgebracht... Nur wenige haben den Mut und die Zivilcourage, sich selbst in die „Schußlinie(!)“ zu stellen, aber viele gefallen sich beim Applaus.

Alle Untersuchungen zeigen eine zunehmende Gewaltbereitschaft gegen AusländerInnen gerade bei Jüngeren. Skinhead- Szene und Neonazis haben jetzt Kommunikationsstrukturen, die vorher glücklicherweise lange Zeit nicht existierten. Heute verbinden sich die spontane, brutale Gewaltbereitschaft von Skins mit der Logistik und den Finanzen der Neonazis. Nur noch zirka fünf Prozent der Jüngeren fühlen sich durch „Politik“ vertreten. Zu Recht! Aber daraus resultieren keine politischen Handlungen, sondern immer mehr gerade jüngere Menschen nehmen Knüppel in die Hand und zerschlagen sie auf den Köpfen anderer. Der Beifall bleibt uns im Halse stecken.

Ängste gehen um und Menschen nicht mehr aus den Häusern.

Felicia Langer – jahrelange Verteidigerin der Palästinenser in Israel – schrieb am 7.10. in der taz: „...es geht um die schiere Existenz der Demokratie, um die Möglichkeit menschlichen Zusammenlebens.“

Beides tut not: zu kämpfen für den Erhalt des Art.16 als Zugangsrecht und etwas zu tun für die mindestens körperliche Unversehrtheit der hier Lebenden. Wer das will, muß möglicherweise schamlos „Bündnisse auf Zeit“ eingehen: Das eine tun, das andere nicht lassen.

Es ist verständlich, daß ein gemeinsames Demonstrieren eine Zumutung ist; aber können wir uns angesichts der Massivität und Lebensgefährlichkeit des Problems den Luxus erlauben zu definieren, welcher Christ, Atheist, Sozialdemokrat der Richtige ist, um mit uns am gleichen Tag auf der Straße zu stehen? Ist jedes CDU-Mitglied Rassist? Dies glauben, hieße jeden Optimismus auf eine andere Welt gleich fahrenzulassen.

In einem Papier des Komitees für Grundrechte heißt es: „Wer dort mitdemonstriert, gerät auf die Seite derjenigen...“ So einfach ist es eben nicht – dogmatisch rein und sauber bleiben wäre fein, aber wohin führt das, wenn mittlerweile die Angst nicht nur bei den Flüchtlingen umgeht, sondern auch schon bei denen, die sie potentiell noch schützen könnten. Was soll diese moralisch abwertende Einstufung?

Wir stehen vor der Frage, wie wir die laufenden Strategien durchkreuzen können, welchen kleinen Beitrag wir noch leisten können gegen die alltägliche Gewalt. Wir wissen doch: Die, die heute prügeln und zündeln, sind nur die selbsternannte gewalttätige Vorhut des Fremdenhasses, wie ihn eine große Anzahl unserer MitbürgerInnen empfindet. Mitproduziert von denen, die nun um die Lufthoheit über den Stammtischen kämpfen, indem sie wortradikal von Scheinasylanten reden, statt zu erklären, warum überhaupt so viele in Asylverfahren gezwängt werden, die doch nur vorübergehend Schutz vor Hunger oder Krieg suchen.

Wider besseres Wissen wird das Heil mit einer Grundgesetzänderung versprochen, in ein paar Jahren werden die den Rest der Verfassung auch noch auf dem Altar der Fremdenfeindlichkeit und Wahlstimmen opfern wollen. Blinder Aktionismus, Vorgaukeln von Handlungsfähigkeit sind Alltag dieser Mediengesellschaft, und die SPD springt samt einem Sack Kohlen noch schwungvoll mit auf die Dampflok, um diese auf der Fahrt in den Abgrund zu beschleunigen.

Demonstrieren mit den „Brandstiftern“, denselben Leuten, die den Art.16 GG ändern wollen, gegen Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhaß? Dennoch: So scharf die Kritik an den Änderungsabsichten sein muß, so wenig kann es richtig sein, CDUSPDFDP, Kohl, Seiters, Engholm, Lafontaine und Lambsdorf aus der Verantwortung für das politische Klima zu entlassen, das sie selbst mitgeschaffen haben.

In dieser Republik drücken Strafverfolgungsbehörden und Polizei zwei Augen zu, wenn sie zum Beispiel nationalsozialistische Symbole sehen. In dieser Republik wird schon wieder versucht, die Schuld den Opfern zu geben. Und da sollen wir die CDUSPDFDP einfach schweigen lassen? Sie damit faktisch auf der Seite der Täter stehen lassen? Sie nicht zu innerparteilichen Auseinandersetzungen zwingen, wie es jetzt Streibl vormacht?

Die Demonstrationen am 8.11. in Berlin und am 14.11. in Bonn stehen nicht gegeneinander. Auch wir fahren nach Bonn, organisieren Busse und erwarten, daß die Hessen, Nordrhein-Westfalen, die Bayern, die Mecklenburger... dorthin fahren. Eine mächtige Demonstration für den Erhalt des Art.16 ist wichtig. Jede Änderung des Grundgesetzes ist ein Sieg und eine Unterstützung für Steinewerfer und Brandstifter.

Aber auch in Berlin sollte sich am 8.11. niemand davon abhalten lassen, auf die Straße zu gehen und für die Unantastbarkeit der Menschenwürde und den Erhalt des Art.16 zu demonstrieren.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Die Menschenrechte sind es auch. Das Asylrecht muß bleiben.

Diesen Zusammenhang werden wir in Berlin unübersehbar machen: gegenüber den Stammtischen, gegenüber der Bonner Politprominenz (die nun kommen muß!). Mit Tausenden von Transparenten „Artikel 16 bewahren“.

Mit weiteren unübersehbaren „Überraschungen“. Mit satirischen Kunstaktionen, unter musikalischer Begleitung. Treffpunkt des Artikel-16-Blocks: 12.30 Uhr Wittenbergplatz/Möbelhaus!!! Renate Künast

Die Autorin ist Fraktionsvorsitzende des Bündnis 90/Grüne(AL)/UFV im Abgeordnetenhaus von Berlin