Die Wirtschaft in Lateinamerika wächst...

■ ...und mit ihr die Angst vor sozialen Unruhen/ Entwicklungsbank legt Bericht vor

Rio de Janeiro (taz) – „Die lang ersehnte wirtschaftliche Erholung Lateinamerikas hat begonnen.“ Zu dieser optimistischen Einschätzung gelangten die Verfasser des kürzlich veröffentlichten Jahresberichts der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID). Das durchschnittliche Wachstum von 3,2 Prozent, so die Banker, gründe sich auf die Exporterfolge sowie einen kräftigen Anschub der Binnennachfrage in der Region. „Im Vergleich zu den Industrieländern ist das Wachstum Lateinamerikas alles andere als bescheiden“, lobte sogar BID-Direktor Enrique Inglesias die Latinos.

Zu dem überdurchschnittlichen Wachstum des Kontinents trugen auch die Auslandsinvestitionen bei. Rund 36 Milliarden US-Dollar flossen in die Neue Welt, insbesondere nach Chile, Argentinien, Venezuela und Mexiko. Dies sind auch die Länder mit den höchsten Wachstumsraten. An der Spitze steht Venezuela mit einer Wachstumsrate von 9,2 Prozent im vergangenen Jahr. Brasilien liegt mit 1,2 Prozent Steigerung des Bruttosozialprodukts noch hinter Peru (2,2 Prozent).

Der wirtschaftliche Aufschwung Lateinamerikas ist bis jetzt an Brasilien vorbeigegangen. Das Riesenreich hat sich eine brutale Rezession verordnet, in der Hoffnung, der chronischen Inflation den Garaus zu machen. Extrem hohe Zinsen bremsen das Wirtschaftswachstum, und die Kapazitäten der Unternehmen liegen vielfach brach. Millionen von Arbeitern und Angestellten werden zwangsweise in Urlaub geschickt, viele sogar entlassen.

Brasiliens Präsident Itamar Franco befürchtet deshalb eine „soziale Explosion“. Händeringend sucht er nach Mitteln, den Hunger und die Arbeitslosigkeit der Bevölkerung durch die Subventionierung von Lebensmitteln sowie Beschäftigungsprogramme abzuschwächen. Franco setzt auf die Ankurbelung der Wirtschaft: „Wir müssen die Zinsen senken, ich brauche praktische Ergebnisse“, warnte er vor wenigen Tagen seine Minister.

Auch Argentinien, von der BID für seine Wirtschaftsreformen gelobt, ist sich seines Aufschwungs keineswegs so sicher. Der Boom, ausgelöst durch sechs Prozent Wirtschaftswachstum im vergangenen Jahr, hat sich bereits wieder abgeschwächt.

Die Dollarisierung der Wirtschaft, bei der die Landeswährung Peso dem US-amerikanischen Dollar gleichgestellt wird, hat dem Land eine außerordentlich negative Handelsbilanz beschert. Der satte Überschuß der Handelsbilanz von 8,2 Milliarden Dollar verwandelte sich in diesem Jahr in ein Minus – allein mit dem Nachbarland Brasilien droht ein Defizit von 1,2 Milliarden Dollar.

Der Grund für die drastisch sinkende Außenhandelsbilanz ist der fixe Wechselkurs eins zu eins zwischen Peso und US-Dollar. Er verteuert argentinische Produkte auf den In- und Auslandsmärkten. Brasilianische Produkte hingegen sind wegen der Unterbewertung des Cruzeiros gegenüber dem Dollar extrem billig.

Für Argentiniens Wirtschaft ist die negative Handelsbilanz äußerst bedrohlich. Die Dollarisierung ist nämlich an die Stabilisierung der Auslandsreserven des Landes gekoppelt. Wenn zusätzliche Steuereinnahmen oder die Erlöse aus den zahlreichen Privatisierungen von Staatsbetrieben die Verluste nicht auffangen, schießt die Inflation erneut in die Höhe. Astrid Prange