Eine Art Rassismus

Zu den diesjährigen Internationalen Filmtagen in Hof  ■ Von Christiane Peitz

Es regnet Flaumfedern. Lautlos schweben sie zu Boden, Gänseliesel sitzt barfuß in der weißen Pracht, die Alte singt ein Volkslied dazu – es war einmal. Das Märchen hat kaum begonnen, da ist es schon zu Ende. In schmutzigen Kitteln rupfen LPG-Frauen häßliche tote Tiere, deren schlaffe Hälse zwischen Stuhlbeinen baumeln. Kein erbaulicher Anblick. Wir sind in „Herzsprung“, einem Dorf in Ostdeutschland, einem Film von Helke Misselwitz.

Schon wieder, denkt man zuerst. DDR-Nostalgie, Beschwörung einer angeblich guten alten Zeit. Aber dann wird dem Märchenbild ein Realitätsschock versetzt. Der Anfang von „Herzsprung“: eine Injektion gegen Geschichtsklitterung, Ernüchterung als Erzählprinzip. Helke Misselwitz hält es leider nicht durch. Dann folgen sie doch, die Stereotypen, mit denen das deutsche Kino derzeit dem Ende der DDR beizukommen versucht: kaputte Trabis, tote Wälder, öde Dörfer, verkommene Plattenbauten, verwüstete Braunkohlegebiete, abgewickelte Arbeiter und Bauern – bonjour tristesse.

Allein die Titel des diesjährigen Hofer Filmtage-Programms diagnostizieren einen Krankheitsbefund: „Verlorene Landschaft“, „Vaterland“, „Kriegsende“, „Deutschfieber“, „Schatten der Angst“, „Schattenboxer“, „Terror 2000 – Intensivstation Deutschland“. Egal ob Märchen, Doku- Drama, Komödie, Allegorie, Science-fiction oder Horrorstreifen: Endzeitstimmungsmache, wohin das Auge blickt. Selbst Detlev Buck unterlegte die Präsentation der ersten fünf Minuten seines neuen Films mit „Spiel mir das Lied vom Tod“. Extra für Hof.

Eines wenigstens kann man den deutschen Filmemachern zur Zeit nicht vorwerfen: daß sie die Realität ignorieren. Das Ende der DDR, die Folgen der Wende, Hoyerswerda und Rostock sind omnipräsent. Kein Film ohne Arbeitslose, Skins oder Ausländerhatz – Kino in Echtzeit. Im Foyer des Filmtage-Kinos wurden Unterschriften für den Hamburger Appell zur Beibehaltung des Artikels16 gesammelt, die Hofer „Initiative gegen Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit“ lud zur Menschenkette in der Fußgängerzone. Das deutsche Kino: betroffen wie nie.

Eines Tages kommt ein schöner schwarzer Prinz nach Herzsprung. Er macht die Gänseliesel zu seiner Prinzessin, sie zieht das Brautkleid der Mutter an und eilt in sein Schloß. Es heißt „Onkel Toms Hütte“ – eine Imbißbude im stillgelegten Omnibus. Aber die feindlichen Ritter fangen den Prinzen: Die örtlichen Skins bedrohen den Schwarzen, stecken seine Bude in Brand, fesseln ihn, Ausländer raus. Aber nicht der Fremde muß sterben, sondern Gänseliesel, die die Dorfjugend aufzuhalten versucht, endet mit einem Messer im Rücken. Eine seltsame Wendung. Misselwitz' Betroffenheit ähnelt derjenigen deutscher Politiker, die so gerne die Floskel von den Steinen gegen die Ausländer gebrauchen, die jeden von uns treffen. Sie treffen uns eben nicht. Bisher ist keiner, der ein Asylbewerberheim zu schützen versuchte, dabei ums Leben gekommen. Misselwitz' Opfer hat einen ostdeutschen Paß – das alte Lied. Der schwarze Prinz bleibt Statist.

Zwar haben die Ausländer und Außenseiter Konjunktur im jüngsten deutschen Film, aber die Sympathieträger bleiben gesichtslos. Entweder herzensgute, ewig lächelnde Wesen oder gezeichnete Opfer. Wenn sie reden, dann in der Heimatsprache und nicht synchronisiert – Hauptsache fremd. Die Polen in Niklaus Schillings „Deutschfieber“, der Afrikaner in Lars Beckers „Schattenboxer“, die Asylbewerberin in Konstantin Schmidts „Schatten der Angst“: allemal anonyme Stellvertreter. Auch eine Art Rassismus.

Schmidts Asylbewerberin gelangt über eine Schlepperorganisation nach Deutschland und stößt auf Unverständnis. Sie wurde gefoltert, die traumatische Erfahrung hat ihr die Sprache verschlagen – ein psychisches Wrack. Eine blasse Frau, mit schwarzen Ringen um die Augen, die ohnmächtig zu Boden fällt, ängstlich kauert, jede Berührung panisch abwehrt. Name, Herkunftsland, Schicksal unbekannt. Die Behörde ist machtlos, die freundliche Psychiaterin überfordert. „Schatten der Angst“ glaubt, der Folter mittels Assoziation gerecht werden zu können: schwere Soldatenstiefel, Gewehre im Anschlag, ein Zellenverlies mit Wanne und tropfendem Hahn. Da der Film den Alptraum inszeniert, weiß er etwas über seine Protagonistin, was denen, die mit ihr konfrontiert sind, verschlossen bleibt. Ihre Geschichte erzählt er dennoch nicht, das Trauma der Frau wird in verträgliche Symbolik abgemildert. Was den Verdacht nahelegt, daß der Filmemacher mehr an seiner eigenen Betroffenheit interessiert ist als an der politischen Konkretion.

Es gibt auch andere Mittel, den guten Willen zu demonstrieren und der Wirklichkeit dabei auszuweichen. Lars Becker versammelt in „Schattenboxer“ korrupte Abschiebebeamte, die ihre Auslandsflüge für Drogenhandel nutzen, abgewiesene Asylsuchende und ein Hamburger Gangstertrio, das seine Überfall-Techniken samt Autoklau ausnahmsweise nicht zur eigenen Bereicherung nutzt. Kein schlechter Plot, wenn Beckers Story sich nicht zunehmend in unglaubwürdig inszenierte Schießereien und wechselseitige Morde verwirren würde. Wieder dienen die Asylsuchenden nur als Katalysator für das Duell zwischen bösen Beamten und sympathischen Kinogangstern. Von dem Afrikaner heißt es nur, daß eine Rückkehr in die Heimat seinen sicheren Tod bedeuten würde. Der Zuschauer erfährt nicht einmal den Namen des Landes, geschweige denn so etwas wie eine Biographie.

Ulli M. Schüppel läßt in „Vaterland“ einen psychisch gestörten Emigranten aus Algerien seinen Sohn entführen; die geschiedene deutsche Ehefrau will dem Vater das Kind vorenthalten. Die von mystisch überhöhten Kindheitserinnerungen begleitete Reise führt in die Wüste der ostdeutschen Braunkohle-Abbaugebiete und verliert sich in zerstörter, kalter Landschaft. Das Kind wird krank, den Vater kümmert's nicht, beide sterben im Schnee. Eine poetische Tragödie, deren Betroffenheit ebenfalls auf Kosten des Filmhelden geht. Verstehen, suggeriert dieser Film, können wir so einen eh nicht.

Christoph Schlingensief ist dagegen. Gegen die Goodwill-Tour seiner Kollegen, gegen Sozialarbeiterkino und Solidaritätskundgebung. Bei ihm trieft nicht das Mitleid, sondern das Blut. Nach dem „Deutschen Kettensägenmassaker“ beschließt „Terror 2000“ Schlingensiefs Deutschlandtrilogie: noch ekliger, gemeiner, perverser. Im Städtchen Rassau treibt eine wildgewordene Truppe aus Polizisten und Pastor Hatz aufs Asylbewerberheim samt Bewohnern. Ein Kripo-Beamter soll die Verbrechen aufklären und entdeckt in den Übeltätern die Geiselgangster von Gladbeck. Auftritt Wiebke, später Michael Kühnen, zwischendurch Schäuble. Da wird brutal gefickt, gebrüllt und zerstückelt, und der Pfarrer spricht zur Beerdigung Politikerworte: „Deutschland ist kein Einwanderungsland.“ Hinterher stehen alle wieder auf und metzeln fröhlich weiter. Deutschland, ein Splattermovie. Das Drehbuch entstand lange vor Rostock; Schlingensief war schon immer ein bißchen schneller.

Wegen seiner Nebenrolle als Neonazi sah sich der Regisseur in Hof dem Vorwurf des Faschismus ausgesetzt, aber das Problem liegt eher umgekehrt. Schlingensiefs enthemmte Horror-Show nimmt den Satz von der Scham, die vorbei ist, beim Wort und entwickelt eine unbändige Lust an deren Illustration: angesichts der allnächtlichen Übergriffe auf Ausländerheime, Kohls Spekulation auf den Staatsnotstand oder antisemitischer Äußerungen wie der des Rostocker Kommunalpolitikers Schmidt gegenüber Ignatz Bubis kaum eine Übertreibung. Schlingensiefs aggressiver Fatalismus bedient allerdings das klassische linke Weltbild samt seinem wohlfeilen Totschlagsargument: der Staat, die Polizei, die Politiker, das Volk – lauter deformierte Sadisten. Jeder Deutsche eine Bestie, Nazis sind wir sowieso. Deutschland vereint: Das Vierte Reich, anything goes – die zynische Form der Verharmlosung.

Der Anonymisierung der Opfer korrespondiert die Überidentifikation mit den Tätern. Der in Hof gezeigte australische Skinhead- Film „Romper Stomper“, der die Haßattacken der Schlägerbande mit Heavy-Metal-Musik aufheizt und das Publikum mittels unermüdlicher Kamera-Action in Hau- drauf-Stimmung versetzt, hat die Gemüter kaum erhitzt; das belgische Massenmörder-Porträt „Man bites dog“ traf hingegen das Verdikt des moralisch Verwerflichen. Ein Kamerateam begleitet einen Serienmörder bei der Arbeit, läßt sich dessen Techniken erklären, hilft bei der Beseitigung der Leichen und wird mehr und mehr am Morden selbst beteiligt. Eine als Dokumentation getarnte Fiktion, die ein böses Spiel treibt mit der gewöhnlich garantierten Grenze zwischen Kino und Leben und der Komplizenschaft der Zuschauer, die angesichts solchen Vertragsbruchs in Scharen den Saal verließen. In Hof war „Man Bites Dog“ der einzige Film, der die Darstellung von Gewalt überhaupt reflektierte, sie weder symbolisch überhöhte oder eins zu eins abzubilden sich mühte. Die scheinbar fehlende Distanz zum Töten irritiert dabei eine Wahrnehmungsgewohnheit, die die Nachrichtenbilder vom Krieg in Jugoslawien mit Gleichgültigkeit quittiert und ins Kino geht, um bei Ketchup und Special Effects das Fürchten zu lernen.

Rechtsextremismus zum letzten: Harald Juhnke mimt Franz Schönhuber. Der Schmierenkomödiant als Spitzenkandidat – bisher verkaufte er Gemüsehobel in der Fußgängerzone, jetzt bringt er im Wahlkampf braune Parolen an den Wähler. Die (fiktive) rechtsradikale Partei hat ihren Kandidaten gegen Bezahlung fest im Griff; aber Juhnke entdeckt sein politisches Gewissen und will die Wahrheit ergründen. Ist die NSDU nur eine harmlose Scheinpartei, gegründet zwecks Bereicherung an der Wahlkampfkostenrückerstattung, oder handelt es sich um waschechte Nazis mit besten Verbindungen zu Industrie und Wirtschaft? So oder so: Juhnke kommt an, sein verlebtes schiefes Gesicht, die schlechten Witze, sein Feixen, Chargieren und die schlitzohrige Naivität des ehemaligen Straßenverkäufers sorgen für Wählerstimmen – ein deutscher „Bob Roberts“. Ralph Huettner gelingt in „Der Papagei“ eine Satire zum Thema Rechtsextremismus mit den denkbar einfachsten Mittelen: einer glaubwürdigen Story und einem guten Schauspieler. Daß die Rep-Chef-Parodie insgesamt milder ausfällt als sein amerikanisches Pendant, mag daran liegen, daß „Der Papagei“ vom Bayerischen Rundfunk produziert wurde. Das einzig gelungene Stück deutsches Kino, diesmal in Hof: ein Fernsehfilm. Während der Dreharbeiten waren die Passanten von Juhnkes Wahlkampfreden übrigens so angetan, daß sie unverzüglich in seine Partei eintreten wollten.