Gedenken und Mahnen

■ Am und rund um den 9. November finden zahlreiche Veranstaltungen über Antisemitismus, jüdische Identität udn Ausländer in Deutschland statt

Ganz Berlin. Als am 9.November 1989 die Mauer fiel, fürchtete nicht nur die Jüdische Gemeinde, daß über der Nacht der Freude die Nacht der deutschen Schande vergessen werden könnte. Das Gegenteil ist der Fall. Brandanschläge auf jüdische Gedenkstätten, Friedhofsschändungen, Drohbriefe an Gemeinderepräsentanten, die ausgrenzende Diffamierung des Zentralratsvorsitzenden Ignatz Bubis in Rostock und die offene Feindschaft gegen Ausländer und Asylbewerber, all dies macht das Gedenken an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 erschreckend aktuell. In diesem Jahr finden am und rund um den 9. November und neben der Großdemonstration am Sonntag viele Veranstaltungen statt, die sich mit Gedenken, Erinnerung, Antisemitismus, jüdischer Identität und Ausländern in Deutschland beschäftigen.

Seit dem 2.11. und noch bis Samstag veranstaltet die Hochschule der Künste die Janusz-Korczak-Gedenktage. Mit Vorträgen, Filmen, Lesungen und einer Ausstellung wird an Werk und Leben des polnisch-jüdischen Schriftstellers und Pädagogen erinnert, der vor fünfzig Jahren im Konzentrationslager Treblinka ermordet wurde. Mit dem Warschauer Ghetto beschäftigt sich am Freitag 19.30 Uhr eine Veranstaltung im Polnischen Institut für Kultur (Karl-Liebknecht-Straße 7). Die in Polen sehr erfolgreiche Schriftstellerin Maria Nurowska stellt ihr eben erschienenes Buch „Briefe der Liebe“ vor. Die Textauszüge trägt die Schauspielerin Heidemarie Theobald vor. Am 8.11. um 10.30 Uhr montiert das Heimatmuseum Charlottenburg in der Sybelstraße 9 eine Gedenktafel, die an die Jüdische Private Musikschule Hollaender erinnert. Anschließend wird eine Tafel am Haus des Gründers des „Kulturbundes deutscher Juden“ in der Mommsenstraße 56 angebracht.

Vom 6.–9.11. veranstaltet die Jüdische Gruppe ihre Kulturtage unter dem Titel „Zwischen den Stühlen“ im Künstlerklub „Die Möwe“ (Luisenstraße 18 neben dem S-Bhf. Friedrichstraße). Themen sind die Zuwanderung von russischen Juden nach Deutschland, jüdisches Leben hier und Erinnerungen jüdischer Emigranten aus Deutschland. Am Freitag (20 Uhr) wird die Ausstellung „Antisemitismus in Rußland (1900 bis 1990) eröffnet. Am Samstag (17 Uhr) liest Nathan Zach aus Israel. Anschließend findet eine Diskussion darüber statt, ob jüdische Zuwanderer und Intellektuelle aus der jüdischen Gemeinschaft ausgegrenzt werden. Am Sonntag (11 Uhr) wird der Film „Todesmühlen“ von Hanus Burger gezeigt, später über die jüdische Mitwirkung am deutschen Nachkriegs- Selbstbewußtsein diskutiert und am Nachmittag über „jüdische Kunst“ reflektiert. Am Abend diskutieren jüdische Verleger über die Schwierigkeit, jüdische Literatur in Deutschland zu publizieren. Am Montag (15 Uhr) wird Gordian Troellers umstrittener Film „Die Kinder Abrahams“ zu sehen sein, und am Abend wird über den „9. November, gestern, heute, morgen“ gestritten. Die Sonntagabend-Veranstaltung überschneidet sich mit der Literarisch-Musikalischen Matinee im Treptower Rathaus. „Es brennt Brüder, es brennt“ (20 Uhr). Der Kulturabend mit u. a. Kathinka Rebling wird vom Bezirksamt, dem lokalen Bund der Antifaschisten und dem Jüdischen Kulturverein getragen.

Direkt im Zusammenhang mit dem Jahrestag der Novemberpogrome 1938 steht am Sonntag ab 15 Uhr in der Jüdischen Gemeinde das Seminar über Retraumatisierung. Die „Organisation der jüdischen Ärzte und Psychologen in Berlin“ veranstaltet es in Zusammenarbeit mit „esra“, der Beratungsstelle für NS-Verfolgte und deren Kinder. Werner Platz redet über Shoa-Überlebende in Deutschland 1992 und Johan Lansen über Psychopathologie- und Dynamik der Retraumatisierung. Um 19 Uhr gibt es eine Podiumsdiskussion mit den Referenten und Mitarbeitern von „esra“ und Christian Pross vom Zentrum für Folteropfer in Berlin über Extremtraumatisierung durch Verfolgung und Krieg. Am Montag um 19 Uhr referiert bei einer Sonderveranstaltung im Haus des Zentralrats (Oranienburger Straße 28) der norwegische Psychoanalytiker Leo Eitinger über die Folgen der Pogrome: „Und die Welt hat geschwiegen.“ Eitingers erster Aufsatz über die traumatischen Lebensverhältnisse von KZ-Überlebenden erschien bereits 1946.

Am Montag, den 9.11. findet mit einem Festakt die Grundsteinlegung für den Erweiterungsbau der Jüdischen Abteilung des Berlin-Museums statt. Der in Form eines Blitzes gestaltete Bau des Architekten Daniel Libeskind soll in vier Jahren stehen. Im 1. Stock des Museums können ab Dienstag die Bauzeichnungen und ein fünf Meter langes Modell des hochgelobten Projektes besichtigt werden.

Ebenfalls am Montag gibt es eine ganze Reihe von bezirklichen Initativen. Schüler und Senioren aus dem Bezirk Wedding unternehmen eine Gedenkstättenfahrt zum Konzentrationslager Sachsenhausen. In Schöneberg wird in der Passauer Straße 2 (heute Parkhaus KaDeWe) um 9 Uhr eine Gedenktafel zur Erinnerung an die 1938 hier zerstörte Synagoge angebracht. Die Rede wird der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Jerzy Kanal, halten. Um 11 Uhr erinnert das Bezirksamt Zehlendorf mit Kranzniederlegungen in der Dorfaue an den nationalsozialistischen Terror, um 11 Uhr der Bezirk Steglitz an der ehemaligen jüdischen Blindenanstalt in der Wrangelstraße. Um 15.30 Uhr gedenken die Schöneberger Bezirkspolitiker am Mahnmal der ehemaligen Synagoge in der Münchner Straße 38 ihrer vertriebenen und ermordeten Bürger. Im Bezirk Tiergarten werden um 10 Uhr Kränze an der Gedenkstätte Levetzowstraße und am Mahnmal Putlitzbrücke niedergelegt. Um 16.30 Uhr gibt es eine Gedenkstunde im Rathaus (Turmstraße 35). Es singt Estrongo Nachama. Und Montag ab 18 Uhr und bis nach Mitternacht findet eine Mahn- und Gedenkwache des Bezirksamt Köpenick auf der Freiheit 8 statt. Auch hier stand eine Synagoge, die 1938 beschädigt, 1944 zerstört und in den fünfziger Jahren von der Kommunalen Wohnungsverwaltung als Lagerplatz vermietet wurde.

Die zentrale Gedenkstunde mit Ansprachen des Regierenden Bürgermeisters, Jerzy Kanal und Gästen des United States Holocaust Memorial Council findet am Montag 18.30 Uhr im Großen Saal des Jüdischen Gemeindehauses statt. Das Totenlied „El Mole Rachamim“ wird Oberkantor Estrongo Nachama singen.

Großdemonstration am Sonntag

Inzwischen gibt es kaum mehr Institutionen, Verbände, Organisationen, die nicht zur Demonstration gegen Fremdenhaß und Gewalt aufrufen. Man rechnet mit etwa 80.000 Teilnehmern. Beginn 13 Uhr am Wittenbergplatz und an der Gethsemanekirche. Um 14 Uhr startet das Kulturprogramm am Lustgarten, um 15 Uhr wird am gleichen Ort die Kundgebung beginnen. Eingeläutet wird das Ereignis durch Andachten in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche (Bischof Engelhardt aus Karlsruhe) und in der Gethsemanekirche (Bischof Kruse Berlin-Brandenburg) jeweils 12.30 Uhr.

Zum Abschluß der Demo lädt das Haus der Kulturen in die ehemalige Kongreßhalle im Tiergarten ein (Direktbus 100 vom Lustgarten). Unter dem Motto „Das Leben ist auch anderswo“ treten afrikanische, lateinamerikanische und arabische Musiker auf. Für Speisen aus Brasilien, dem Libanon und der heimischen Küche wird gesorgt. Einlaß ab 16 Uhr. Der Eintritt ist frei, um einen Unkostenbeitrag wird aber gebeten. Quer zu allen Veranstaltungen zum 9. November 1938 und 1992 liegt eine Dia-Show mit Diskussion über den 9. November 1918. Sie findet aber schon am Vorabend um 20 Uhr im Café Klatsch in der Marcobrunnerstraße 9 statt. Ein Vertreter der autonomen Antifa (M) aus Göttingen will die Aktualität des Rätesystems erläutern. Und um den strittigen Asylparagraphen geht es am Montag im „Haus vom guten Hirten“, Residenzstraße 90/91 in Reinickendorf. Um 18.30 Uhr referiert die Ausländerbeauftragte des Senats, Barbara John, unter dem Titel „Kann Deutschland seine Brücken hochziehen?“.

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