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■ Scheibengericht"Pop & Wave. The Hits of the 80s". / Sade: "Love De Luxe" / Nena: "Bongo Girl" / Die Lassie Singers: Sei a Gogo". / Stephen Jesse Bernstein: "Prison".

Diverse: „Pop & Wave. The Hits Of The 80s“. (Columbia/Sony).

Jetzt werden die achtziger Jahre endgültig verramscht. „Pop & Wave Vol. 1 & 2/The Hits of the 80s“ heißt ein Doppel-Doppel-LP- Paket von Sony, das ein ganzes Jahrzehnt auf das Level von „Kuschelrock Vol. 6“, „20 Soft-Sex- Balladen“ oder „K-Tel's absolutes Hammeralbum“ zusammenrafft. 72 Songs für runde 70 Mark, zum Mitnehmen an der Supermarktkasse. Was das Cover anbelangt, hat man sich zu einer radikalen Frisör-Ästhetik entschlossen, die in dem Zusammenhang wie Kunst wirkt: knappe, raffiniert reduzierte Ikonisierung einer Ära (feuilletonistisch: die „Signatur einer Epoche“) in ein paar schnellen Designer-Strichen. Gibt's auch als T- Shirt.

Traurig ist das alles kaum, zumal es seit Jahren nichts mehr zu verteidigen gibt. Wenn es aber richtig ist, was einige Theorien besagen: daß Plattenspieler nicht nur aufnehmen, sondern auch abspielen – die Gefühle nämlich, die eine Aufnahme zu einer gegebenen Zeit wachgerufen hat –, dann ist so eine abgeschlossene Werkedition immer auch ein Anlaß, sich einen pop-praktisch eher verpönten Luxus zu gönnen und das, was mal war, nochmals kurz durch den Körper und das Denken ziehen zu lassen.

Die erste Reaktion, wenn ich mich auf dieses Setting einlasse, mich aufs Bett lege und den Zufallsgenerator am CD-Spieler einschalte (wobei an dem Gerät, das im übrigen auch von Sony ist, eine Art stilisiertes Glücksrad über das Display huscht, bevor die elektronische Wahl einrastet): was für ein seltsamer Spielzeug-Beat. „Tainted Love“, „Blue Monday“, „Just Can't Get Enough“ – kaum zu glauben, daß das mal als hart empfunden wurde, als Rhythmus aus Maschinen, die das Pathos einer neuen Zeit vor sich hintuckerten. Eigentlich war alles gar nicht so schlimm. Jedenfalls nicht so schlimm, wie viele glauben machen wollten. Denn war man noch „entfremdet“ zu Beginn der achtziger Jahre? Irgendwie schon, doch eher schon Fragment unter Fragmenten in einer Welt von Oberflächen – und damit eine Menge Probleme los. Zwar passierte schier nichts im Leben, aber nahm man die Zusammenhanglosigkeit der Welt ernst, so war sie ein einziger hübscher Baukasten. Wie theoretische Einzelteile schwebten drumherum eine Vielzahl schöner wirrer Begriffe: Simulation, „Wunsch“, semiologische Praxis, Mikropolitik.

Überhaupt die Theorien: Erst zusammen mit den Theorien und theorieähnlichen Gedanken erzählen die Lieder der achtziger Jahre, was sie im Alltag bedeutet haben: Abschied von den abgenutzten Rhetoriken und Praktiken der Vorgängergeneration und zugleich Formulierung einer neuen Variante von Widerstand: der „Subversion“. Sie erzählen von symbolischen Umwertungen, glänzenden Busineß-Anzügen, die gegen Hirtentaschen-Ästhetiken vorgebracht wurden, dem Spaß, den es gemacht hat, bärtige Altrocker mit verwegenen Interpretationen banaler Phänomene zu schocken – all den Praktiken des sogenannten „Zitat-Pop“ eben, die ja des öfteren schon beschrieben worden sind. Außerdem erzählen die Stücke von der allmählichen Aneignung dieser Strategien durch die Freizeitindustrie. ABCs „The Look Of Love“ etwa ist heute nicht mehr London, Anfang der Achtziger – großartiges, überkandideltes Pathos –, sondern Gauloises Blondes: dumpfe Brunftspiele vor französischen Strandkabinen. Bloß von einem erzählen all die 72 Lieder auf „Pop & Wave Vol. 1 & 2“ nicht im geringsten, noch nicht einmal, wenn man ganz genau hinhört: vom Ende des Kalten Krieges, dem Wiederauftauchen (auch als solche wahrgenommener) „echter“ Kriege, der drohenden Aneignung symbolischen Protests durch eine jugendliche Rechte; wenig war in den achtziger Jahren solider als der Konsens, Gefahr von rechts stünde schon nicht ins Haus. Man war eben sehr mit sich selbst beschäftigt.

Aber ist das nicht wirklich Grund zum Sichwundern? Daß die Pop-Welt, von der es immer heißt, sie sei der rascheste und unmittelbarste Indikator gesellschaftlicher Bewegungen, nichts, aber auch gar nichts von diesen neuen Wirklichkeiten vorausgesehen hat (die doch, wenn Geschichte noch einen minimalen Zusammenhang aufweist, auf irgendeine Weise bereits im letzten Jahrzehnt angelegt gewesen sein müssen)? War das Leben im Falschen doch falscher, als man es sich träumen ließ? Was das Konzept „Subversion durch Pop“ heute so alt aussehen läßt, ist nicht so sehr der „normale“ Gang der Dinge – die Integration von jugendlichem Nichteinverstandensein in nochmals erweiterte Reproduktionsformen der Warengesellschaft –, nein, es ist die Tatsache, daß die Pop-Avantgarde in ihrem Denken und Handeln so weit von der Erkenntnis einer Wirklichkeit entfernt war, die allerdings die stille und grundlegende Voraussetzung all dieser Gefechte war.

Was mich heute verblüfft: der Unterschied scheint im nachhinein gar nicht so groß zwischen den Protagonisten des Subversions-Konzepts und den Leuten, die man als New Wave-Rebell am meisten haßte: Birkenstockträger, Friedensbewegte, linksorthodoxe Lehrerfiguren und alternative Einbekenner von „Betroffenheit“. Während die einen sich in der Fußgängerzone auf die Erde warfen, fest davon überzeugt, in Europa stünden Atomkrieg und Apokalypse unmittelbar bevor (was für ein Irrtum, wenn man von heute aus die eher stabile Situation der Achtziger betrachtet), entdeckten die anderen Formen der Mikropolitik, die es möglich machten, selbst unbedeutende Freizeitaktivitäten als Akte des Widerstands zu verstehen; während die einen für den Frieden fasteten und immerzu ihre „Angst“ ins Feld führten, leisteten sich die anderen den Luxus, die Welt als simulierte Welt zu fassen und vom Thresen aus zu beurteilen. Gemeinsam ist beiden Formen des Protests eine gewisse Neigung, Ausflußformen von Subjektivität mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Theorie in den Achtzigern, so der vorläufige Schluß daraus, war oft selbst Bestandteil von „Gesprächskultur“; sie hatte das uneingestandene Ziel, sich im Reden doch noch als handelndes Subjekt ins Zentrum von Prozessen zu imaginieren, deren Agent man längst geworden war.

Insofern war der eigentliche Hit der Achtziger auch nicht ABCs „The Look Of Love“, nicht „Do You Really Want To Hurt Me“ von Culture Club oder „Young Guns“ von Wham!, sondern eben doch „Living In A Box“ – das One- Hit-Wonder einer Gruppe gleichen Namens, die seither ohne Spur von der Bildfläche verschwunden ist (die Namenlosigkeit, das Verschwinden, das „Nomadische“: auch so ein Item der Achtziger). Jetzt ist der Lack ab, die Kiste offen, und man wird sehen müssen, was noch alles rausgärt.

Sade: „Love De Luxe“. (Sony).

Daß Sade Adu das geplante Comeback gelingen wird, ist immerhin kaum zu befürchten. Die Sirup-Coolness des neuen Albums kommt so zeitlupenhaft zäh, so ganz und gar gestrig, daß selbst bekennende Fans sich fragen müssen: War's das jetzt? Ist dem – doch sicherlich hochmotivierten – Sade- Kreativ-Team denn gar nichts anderes eingefallen als dieser müde Aufguß von „Smooth Operator“? Wäre denn nicht wenigstens ein etwas progessiverer Titel drin gewesen als ausgerechnet „Love De Luxe“? Aber offenbar wollte man auf Teufel komm raus genau dieses Lagerfeld-meets-Saharalady-Luxus-verpflichtet-Ding reviveln.

Naja, sagt man sich, Diamanten sind nun mal unvergänglich (gähn). Das Promo-Blatt weiß es aber besser. „Ihre Musik war schon immer etwas Besonderes“, heißt es dort auftrumpfend, „durchzogen von einer Atmosphäre, die nur mit einem einzigen Wort zu umschreiben ist: Goldstaub.“

Nena: „Bongo Girl“. (Epic/Sony). Die Lassie Singers: „Sei A Gogo“. (Dragnet/Sony).

Hey, Nena ist wieder da. Auch sie tut, als sei nichts geschehen in all den Jahren. Lacht in xerokopierter Neue-Deutsche-Welle-Pose vom CD-Cover. Ist halt so drauf. Posiert für die Illustrierte MAX im aufgemalten Body-Paint-Leoparden-Anzug (Stichwort: „Offen für Anzügliches“). Sagt in ihren Liedern immer noch „Üch“ statt „ich“. Kokettiert mit dieser speziellen Form von Verletzlichkeit, die Journalisten gelegentlich zu Poeten werden läßt: „Sie gehört zu den wenigen Frauen, die es sich nicht nur leisten können, einen knallroten Blazer mit Zyklam-Stich zu einer aprikotfarbenen Hose anzuziehen – sie sieht darin auch noch gut aus“ (tip-Magazin).

Das war's dann aber auch. „Hey, laß mich gehn, es ist alles viel zu schön, alles alles alles an dir macht mich zum Tier“ – Blazer mit Zyklam-Stich hin oder her, das muß nicht sein. So wenig wie die ganze Platte, die auf Barbados zustandekam und, von wenigen Depri- Passagen abgesehen, durchgängig Bounty-Stimmung verbreitet. Eine „Reise ins Licht durch den Dschungel des Lebens“ soll „Bongo Girl“ sein. Der Titelsong ist, voll passend, ein Ethno-Knaller, zu dem Nena Negerkinder herzt.

Mensch Gabriele Susanne Kerner, noch nicht mal Benetton ist doch heute mehr so rundum unerträglich positiv! Vorstehende Zähne als Verweis auf frühes Leid und schwere Kindheit, von Rainald Goetz vor Jahren als „Lutschprognathie“ diagnostiziert, reichen nicht aus, um Dich auch wirklich zu lieben, wenn Du da im Fernsehen drin bist und so lustig singst. Nee nee, zu nett nährt sich das Nena- Hörnchen.

Nur zum Kontrast jetzt: Die Lassie Singers. Zuerst denkt man: Ach, die wieder. Wie die schon heißen. Erste Platte war nicht sooo gut. Zugereiste Berliner Lustigkeit. Dann hypen alle möglichen Magazine „Sei A Gogo“ auch noch über die Maßen hoch, und schon glaubt man, das branchenübliche Kartell aus Busines As Usual, Angewidertsein, Vorurteil und eigener Trägheit nicht mehr durchbrechen zu müssen und will das Werk ad acta legen.

Fehler, ganz ganz großer Fehler! Diese Platte ist toll! Bin berührt, bin weg! Eine der Sängerinnen heißt Kathrin von Witzleben, wahrscheinlich ist das ein Pseudonym, aber ausnahmsweise ein gutes. Und so lebensnah. Die Lassie Singers lassen in die Form des konventionellen Beat-Schlagers endlich wieder bundesrepublikanischen Alltag einsickern. „Hamburg“ etwa ist nicht nur eine dreistimmige Ode an die gleichnamige Hansestadt, sondern auch eine Art akustisches Tourtagebuch, das Freud und Leid zwischen Kamener Kreuz und Drachensteiner Hang zum Gegenstand nimmt – Jackson Brownes „Running On Empty“ ist ein Dreck dagegen. Überhaupt werden mittelgroße Erlebniseinheiten unter zupackenden Titeln wie „Ist das wieder so 'ne Phase“ oder „Wie ein engstirniger Taxifahrer eine aufkeimende junge Liebe einfach so zerstört hat (Köln)“ realistisch verdichtet, wobei der Stand der Geschlechterbeziehungen insgesamt kritisch, aber nicht hoffnungslos eingeschätzt wird: „Männliche Mitmenschen, statt xx seid ihr xy, bitte macht was draus!“

Ich meine, auf sowas muß man erst mal kommen! Die Lassie Singers sind Deutschlands bislang reifster Beitrag zum sonst nur in angelsächsischen Ländern gedeihenden Girlism-Phänomen, und ohne daß ich jetzt genau sagen kann, warum, paßt es nur zu gut, daß jemand, dem ich die Platte in meiner Begeisterung vorspielte, eine der Sängerinnen von der Schule her kannte. Sie kommt aus Hügelheim bei Iffezheim, und ohne Hügelheim zu kennen, habe ich mir nach dem Anhören von „Sei A Gogo“ gesagt: Wahrscheinlich kommen, wenn man da herkommt, am Ende automatisch solche Lieder dabei raus.

Stephen Jesse Bernstein: „Prison“. (SubPop).

Liegengeblieben unter einigen anderen ist die erste und einzige Platte von Stephen Jesse Bernstein. Weder paßt sie ins Repertoire von SubPop, dem Label, dessen Sound (sie nennen es „Grunge“) unlängst selbst der Spiegel entdeckt hat, noch hat sie besonders viel mit dem momentanen Popgeschehen gemeinsam. Ihre Wurzeln liegen in den fünfziger und sechziger Jahren, bei Ginsberg und anderen Poeten der Beat Generation.

„Didn't do well in school, but handled pharmacy and tools of street crime instinctively“ – Bernsteins Sprechgesang zehrt vom strapazierten Mythos der Straße, gewinnt ihm aber neue Noten ab, indem er nie verschweigt, wie weit außen sich das Außenseitertum des white nigger heute abspielt. Und zwar von Anfang an. Bernstein ist der „No No Man“, den er im ersten Titel besingt. Höhepunkt dieses seltsamen, von Rap-Rhythmen und Soul-Bläsern untermalten Nach- und Abgesangs: „The Face“ ein Anti-Entwicklungsroman in Gedichtform, der alle Leiden eines auf dem Schulhof gehänselten Jungen mit abstehenden Ohren und orthopädischen Schuhen auf 17 Minuten komprimiert. Er endet mit den Worten: „There will always be something wrong with my face.“

Das hört sich niederschmetternd an, reizt zugleich aber auch zum Lachen. Es ist kein Auslachen, sondern ein Mitlachen. Bernstein schreibt ja keine simple Auskotz-Poesie. Er rhythmisiert die Worte so, daß sie sich gegen die in ihnen bezeichneten Signifikate wenden – den ganzen Blöd-Sinn der Unterdrückung. Und das ist genau der Punkt, in dem er als Weißer und Jude an Traditionen der schwarzen Oral Poetry anknüpft: Reden, um nicht unterzugehen. „Beatnigs“ war der frühere Name einer HipHop-Gruppe, die sich heute The Disposable Heroes Of Hiphoprisy nennt. The Beat Nig: das hätte auch auf Stephen Jesse Bernstein gepaßt, der sich während der Aufnahmen zu „Prison“ umgebracht hat.

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