Über die Errungenschaften der Revolution

■ Der Darwinismus bedroht den neuen Menschentyp der Revolution

Liebgewonnene Sitten möchten auch die Russen nicht über Bord werfen. So begehen sie heute zum 75.Mal den Tag der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“. Ohne Tingeltangel und viel Aufhebens. Ein kleines Häuflein wird sich zu einer Prozession zusammenfinden mit geometrischen Sinnbildern und tiefsinnigen Parolen, wie es die Dramaturgie der erstarrten Utopie verlangte.

Es wird ein trauriges Schauspiel, denn es fehlt ihm an jenem Glanz und Gloria, das das Sowjetsystem so unvergleichlich zu inszenieren verstand.

Ernüchterung auf allen Ebenen, lautet die unsichtbare Parole über dem Kreml. Eigentlich weiß keiner, was gefeiert wird. Das Jubiläum blieb ein arbeitsfreier Tag, da man dem Volk nicht alles rauben wollte. So wird es das übrige Volk, die anderen 98 Prozent, auch handhaben. Man wird länger schlafen, spazierengehen und sich eine Flasche Wodka genehmigen. Hierin hat es sich noch nie etwas vorschreiben lassen. Nicht von Stalin, nicht von Gorbatschow. Jelzin unternimmt gar nicht erst den Versuch.

Um sich an diesem Tag mit Geschichte — und sei es nur der eigenen — zu befassen, ist es viel zu früh. Das Interesse an Aufarbeitung der Vergangenheit hat seit langem nachgelassen. Kaum einer möchte davon etwas hören. Vielleicht ist es auch notwendig. Denn der Russe kannte seine glorifizierte Geschichte, die ihn gleichsam auf eine blendende Zukunft vertröstete, aus dem Effeff. Das System unternahm alles, um ihn nicht mit der Gegenwart in Berührung kommen zulassen. Die Architekten der unvermeidlichen Übergangsperiode — der Jetztzeit — die unzähligen Nomenklaturisten lebten ihrerseits schon in der Zukunft, im Kommunismus. Sie waren die einzigen, die wußten, wovon sie eigentlich reden.

Die Zeiten sind schlagartig vorbei. Aus dem Zustand eines Mündels zur Selbstverantwortlichkeit ist ein Schritt. Da bleibt keine Zeit für lästige Geschichte. Und allen Unkenrufen zum Trotz gelingt es den Russen irgendwie, die Gegenwart auf ihrem eigenen Terrain zu bezwingen. Es tut sich etwas im Land, läßt es sich auch schwer bestimmen. Rußland bewegt sich — wie es scheint, tatsächlich vorwärts.

Die Sicht wird frei auf die Ergebnisse der 70 Jahre Nachoktober. An den Rändern der Städte begegnen wir einem Menschenschlag, den die Russen in Anlehnung an Marx, als „Lumpen“ bezeichnen. Er hat den Halt verloren, den ihm das System garantierte. Es stilisierte ihn zum Idealtypus des Proletariers, des Neuen Menschen. Ernannte ihn ohne eigenes Zutun zur Avantgarde, stattete ihn per Propaganda mit Überlegenheit aus und zahlte ihm einen guten Lohn, auch wenn er nicht arbeitete. Er brauchte nur aus dem Fenster zuschauen, um sein Konterfei zu sehen.

„Ehre der Arbeit“, stand meistens dadrunter — Rot auf Weiß. Im Tausch dafür verhielt er sich ruhig und war gefügig. Moral war ihm in seiner Lage nicht zuträglich. Die Wirtschaftsreformen spülen diesen Typus heute an die Oberfläche. Denn er taugt zu nichts. Man hat ihn seiner Menschenwürde beraubt, doch er weiß es nicht. Schreit er nach Stalin, hat er guten Grund dafür.

Das Sowjetsystem zeichnete sich dadurch aus, daß es Arbeit von ihren Resultaten unabhängig machte. In diesem wärmenden Schoß reifte ein Typus heran, den man „Sovok“ nannte. Mit Fug und Recht läßt er sich als das eigentliche Produkt des Sozialismus bezeichnen. Wenn die Propaganda der Partei vom neuen Sowjetmenschen zwischen Brest und Wladiwostok salbungsvoll sprach, schmunzelten die meisten insgeheim. Doch sie hatte recht. Zwar war der Kaukasier Kaukasier und der Russe blieb Russe. Gleichzeitig verband sie aber die Eigenschaften des Sovok: Dumpfer Haß auf jeglichen fremden Erfolg. Ein unstillbarer Durst nach Gleichheit und eine unausrottbare Trägheit. Sovok waren natürlich immer die anderen. Die Bezeichnung durchlief eine bemerkenswerte Metamorphose. Zunächst war es eine Beleidigung, dann geißelte man sich selbst als Sovok — sie hatte die Stufe der Selbsterniedrigung erreicht, die sich selbstverständlich nicht lange ertragen läßt. Schließlich nahm sie apologetischen oder besser befreienden Charakter an: Das System war schuld.

Das erklärte jenes Phänomen, warum man im ehemaligen Sowjetreich niemals jemanden traf, der verantwortlich, geschweige denn Schuld an etwas war. Dieser Typus nistete in irgendwelchen Labors, Kanzleien und Forschungseinrichtungen. Er zeichnete sich durch Nähe zur Intelligenz aus, die das Glück besaß- wieder einmal — unabhängig von ihren Leistungen den Sammeltitel „Blüte der Nation“ zu tragen.

Dem Sovok geht es heute an den Kragen. Die Neue Zeit hat ihn bis aufs Hemd entkleidet. Mit Wortgewalt versuchen seine Verteidiger, ihn zum Archetypus des Russen zu stilisieren, um ihm seine Existenz zu erhalten. Bekannte Ausflüge in die russische Geschichte werden unternommen. Schon immer sei der Russe ein egalitär gesonnener Mensch gewesen. Gemeinschaftlichkeit bestimmte sein Lebensgefühl. Individualismus sei ihm ein Greuel.

Je weiter sich die Gesellschaft ausdifferenziert, je mehr diese Postulate an Haltbarkeit einbüßen, desto lauter werden die Verzweiflungsschreie. Rußlands Identität stehe auf dem Spiel. Dabei ist es nur die Identität der millionenfachen Kostgänger und Müßiggänger des Staates und der Partei, die jetzt ernsthaft bedroht ist. Und es zeigt sich, daß die Evolution diesen Typus übergeht. Er hat seine Überlebensunfähigkeit unter Beweis gestellt. Sein Platz gehört ins Museum für Anthropologie. Einige ihrer Vertreter haben das intuitiv begriffen. Seit Monaten halten sie Wacht vor dem Leninschen Revolutionsmuseum, gleich um die Ecke vom Roten Platz.

Auch heute wieder, während die anderen Moskauer einfach den freien Tag genießen. Klaus-Helge Donath