Rostock, revisited

Ein Spaziergang durch Deutschlands berühmt-berüchtigste Stadt/ Viele Vietnamesen kehren nach Lichtenhagen zurück/ In den Vororten werden noch immer Jugendzentren geschlossen  ■ Von Claus Christian Malzahn

Die Rostocker Fußgängerzone hat was von Castrop-Rauxel. Nur die Betonblumenkübel fehlen noch, dann dürfen die Stadtplaner ausrufen: Es ist geklont.

Der morbide Charme, den die Kapitäns- und Patrizierhäuser vor zwei Jahren noch ausstrahlten, wich aggressiver Leuchtreklame. Längst haben westdeutsche Handelsketten die City der Hafenstadt gekapert. Rostock ist auf den ersten Blick eine langweilige Kleinstadt wie andere auch. So ist es den Bürgerinnen und Bürgern auch am liebsten; doch die Flucht der Bewohner hinter postmoderne Fassaden will nicht gelingen. Die Hanseaten wissen genau: in der Welt hat der Name ihrer Heimatstadt einen ganz besonderen Klang.

Rostock – diese sieben Buchstaben sind im Herbst 1992 ein in aller Welt verstandenes Synonym für das Böse in Deutschland. Als der Rostocker Druckerlehrling Steffen Hahn im Oktober in Brüssel gegen Rassismus demonstrierte, skandierten Zehntausende No more Fascism, no more Rostock. Der 23jährige fühlte sich „so beschissen wie noch nie“. Zurück in seiner Heimatstadt, malte er mit Freunden ein Transparent und mischte eine Sitzung der Bürgerschaft auf. „Schreibtischtäter machen weiter!“ war auf dem Leinentuch zu lesen. In einem Flugblatt stellte Steffen die Frage: „Warum ist das Bekenntnis zur Mitschuld ausgeblieben?“

Die Schuld für das katastrophale Image suchen selbst Spitzenpolitiker zuallererst bei denen, die die schlechten Nachrichten aus Rostock in aller Welt verbreiteten. Christoph Kleemann, Präsident der Bürgerschaft, ist davon überzeugt, daß die „einseitige Berichterstattung“ über den Bubis-Besuch das Bild der Stadt verzerrt hat. „Emotional belastet mich das ungeheuer, was hier passiert ist!“ – ein Bekenntnis, das man dem Mann, der die Revolte im Herbst 89 in der Hafenstadt anführte, durchaus glauben kann.

Kleemann, 48, gelernter Theologe, kann nur schwer ertragen, „daß nun alle mit dem Finger nach Rostock zeigen und wir die braune Stadt sein sollen“. Die 250.000 Einwohner große Kommune wird von einer ganz großen Koalition – SPD, CDU, FDP und Bündnis 90 – regiert. Nur die PDS und Die Grünen/UFV proben die Opposition. Eine rechtsradikale Partei ist in der Bürgerschaft nicht vertreten, „aber das kann sich natürlich ändern“, so Kleemann. Was tun? „Wir müssen uns große Mühe geben und den Neubeginn mit Ernst betreiben!“ erklärt er mit fester Stimme. Und er fügt, ein bißchen stolz, hinzu, daß „viele Vietnamesen wieder nach Lichtenhagen gezogen sind“.

Tatsächlich kehrten eine ganze Reihe derer, die nach dem Brandanschlag in panischer Angst aus der Stadt geflohen sind, inzwischen wieder zurück. Über 1.400 Ausländer leben in der Hansestadt – einige wenige trifft man auf dem Marktplatz, der sich gleich gegenüber von Kleemanns Amtssitz im Rathaus befindet. Der Job, dem die meisten vietnamesischen Männer und Frauen hier nachgehen, erfordert Geschicklichkeit und Konzentration. Sie verkaufen Zigaretten – zu Schwarzmarktpreisen.

„Jeden Tag kommen die Männer von der Steuerfahndung, dann müssen wir schnell sein!“ berichtet ein etwa 40jähriger ehemaliger DDR-Vertragsarbeiter, der seinen Namen lieber nicht gedruckt sehen möchte. Jeder Fußgänger weiß, was der Vietnamese unter der ausgebeulten Windjacke trägt, die Stange Marlboro kostet 30 Mark. Er ist nicht allein: In Abständen von jeweils zehn Metern hat sich ein halbes Dutzend seiner Landsleute über den Wochenmarkt verteilt; nach einem verabredeten Zeichen verschwinden zunächst die Zigaretten unter der Jacke, danach blitzschnell die Verkäufer im Getümmel. Wird einer erwischt, werden die Kippen konfisziert. Das passiert selten: „Die Männer von der Steuerfahndung kennen uns zwar, aber wir kennen die auch“, berichtet er grinsend. Bis zur Wende arbeitete er als Schweißer in Hennigsdorf bei Berlin – als Ausländer gehörte er zu den ersten, die gefeuert wurden. Arbeitslosengeld stand ihm von Rechts wegen nicht zu, eine Arbeitserlaubnis hat er auch nicht. Seit ein paar Monaten ist er schon da, „Probleme mit Skinheads oder Rechten hatte ich noch nie“. Nun hat er in Rostock Asyl beantragt, „weil ich Geld brauche zum leben“, wohnt bei Freunden und bessert die spärliche Sozialhilfe durch illegales Handeln auf. Wo er die Zigaretten herhat? „Auf Wiedersehen, mach's gut!“

Der Überseehafen von Rostock liegt etwa zehn Kilometer von der Innenstadt entfernt. Er ist nicht nur deshalb eine Reise wert, weil dort einer der letzten Intershops aus DDR-Zeiten – nunmehr in Duty-Free-Shop umgetauft – zu bewundern ist. Der Überseehafen ist das Rostocker Tor in die große weite Welt, „nur weiß das keiner!“ meint Folkert Janssen – und der muß es wissen.

Janssen, 38, gelernter Matrose, kennt den Rostocker Hafen schon seit 15 Jahren. Von 1979 bis 1982 fuhr er selbst zur See; dann machte der aus Elsfleth in der Wesermarsch stammende Norddeutsche Zivildienst in der Seemannsmission in Brake. Seit einem Jahr managt er deren Zweigstelle in Rostock. Die etwa 30 Quadratmeter kleine, spärlich eingerichtete Teestube wurde allein im Oktober von über 400 Matrosen besucht. Die Umgangssprache ist Englisch, und wenn Folkert Janssen seine Gäste mit den Worten How are you? Everything okay? begrüßt, lautet die Antwort meist No.

Neun von zehn Matrosen, die in Rostock an Land gehen, kommen aus sogenannten Billiglohnländern. Wer nun an Filipinos, Uruguayer oder Koreaner denkt, ist auf dem falschen Dampfer. Die Matrosen mit der miesesten Heuer stammen aus der ehemaligen Supermacht Sowjetunion. Oft verdienen sie nicht mehr als 200 Mark im Monat, oft bekommen sie auch die nicht. In solchen Fällen wird Janssen aktiv und versucht, mit Hilfe der Transportarbeitergewerkschaft die Reeder unter Druck zu setzen.

Im Hafen, der wegen der vielen demontierten Kräne und abgerissenen Baracken wie ein Schuttplatz aussieht, landen nahezu alle Bananen für den osteuropäischen Markt. Mecklenburger Raps wird auf Frachter verladen, die gen Japan in See stechen – der Überseehafen entwickelt sich wieder zu einem der wichtigsten Handelsplätze an der Ostsee. Nicht nur als Drehscheibe für den Ost-West- Seehandel, nicht nur als wichtige Fährverbindungsstelle nach Gedser und Trelleborg in Schweden gewinnt der Umschlagplatz an Bedeutung. Auch eine ganz andere Branche schätzt die attraktive infrastrukturelle Lage des Überseehafens, der als einziger Hafen in Ostdeutschland eine direkte Verbindung zur Autobahn hat.

In der vergangenen Woche entdeckten Zollfahnder auf dem ecuadorianischen Bananendampfer Frio Atlantic 20 Kilogramm Kokain. Das ist bereits der vierte dicke Fisch, der der Behörde im Rostocker Hafen seit Juli ins Netz ging: Insgesamt wurden bereits 215 Kilo Koks im Wert von 50 Millionen Mark sichergestellt. Solche Nachrichten beunruhigen die Rostocker: nach den Zigeunern und Nazis nun auch noch Drogen?

Folkert Janssen warnt die Seeleute davor, in die Stadt zu fahren. Erst vor einer Woche seien drei „GUS-Seeleute“ in Warnemünde – etwa drei Kilometer von Rostock- Lichtenhagen entfernt – von zehn jungen Männern mit Baseballschlägern krankenhausreif geschlagen worden. Im Oktober 1991 brachen Skinheads in der Altstadt einem Ecuadorianer den Fuß, wenige Tage später wurde ein Matrose aus Uruguay verprügelt und beraubt. Wenn Sie die Rostocker Innenstadt besuchen wollen – vor allem nachts –, bleiben Sie in Ihrer Gruppe, meiden Sie dunkle Ecken, halten Sie sich von Skinheads fern! heißt es auf einem Schild, das in der Teestube hängt. Folgenden Satz hat Janssen vor kurzem wütend durchgestrichen: Obwohl wir Ihnen diese Vorsichtsmaßnahmen ans Herz legen möchten, weisen wir darauf hin, daß die Skinheads nur eine kleine, aber sehr gefährliche Minderheit sind, die den internationalen Ruf der Deutschen beschädigen. Janssen: „Solange die Rostocker sich das bieten lassen mit den Rechten, bleibt der letzte Satz weg!“

Der Ruf der Stadt ist ruiniert – wo man auch hinschaut, es wird sich geniert. Der Schuldkomplex, der auf der Stadt lastet, führt zu ungewöhnlichen Aktivitäten. So plädiert beispielsweise der Wirtschaftssenator der Hansestadt, der Christdemokrat Professor Dr. Dieter Neßelmann, lautstark für die Beibehaltung des Grundrechts auf Asyl. Und nicht nur das. Gemeinsam mit seiner Kollegin Ulrike Oschwald, der von der FDP gestellten Kultursenatorin, unterschrieb er den Rostocker Appell II, ein Aufruf, der neben einem Einwanderungsgesetz auch die rechtliche Gleichstellung von Ausländern fordert, die in der Bundesrepublik ihren Lebensmittelpunkt haben. Dieser Appell, zu dessen Erstunterzeichnern auch die Journalistin Lea Rosh und der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Ullmann (Bündnis 90) gehören, wird inhaltlich auch von der Ostsee-Zeitung mitgetragen, die den Aufruf vollständig abdruckte. „Wir wollen damit zur Diskussion anregen!“ erklärt Thomas Hoppe, stellvertretender Chefredakteur, dieses in Deutschland wohl einmalige Engagement einer Regionalzeitung. „Außerdem versuchen wir den Ruf unserer Stadt zu retten!“ wirft ein Kollege lakonisch ein.

Während Rostocker Journalisten, Politiker, Künstler, Unternehmer und Rechtsanwälte sich den Kopf darüber zerbrechen, wie man den Ruf der Stadt verbessern und damit Unternehmer zu Investitionen überreden kann, bleibt in den Betonburgen der Stadt alles beim alten. Die Mehrheit der Einwohner, 150.000 von 250.000 Menschen, lebt in Plattenbauvierteln wie Lichtenhagen. An der Tristesse, mit der die Jugendlichen in diesen Gegenden täglich konfrontiert sind, hat sich nichts verändert. Im Gegenteil: In der vergangenen Woche hat die Arbeiterwohlfahrt angedroht, den letzten Jugendclub des Lichtenhagener Nachbarviertels Groß Klein abzuwickeln. Man könne sich die Finanzierung des Clubs nicht mehr leisten, erklärt eine Mitarbeiterin, allein die Miete kostet monatlich über tausend Mark. Bis zum Jahresende werden die Schulden des Clubs auf über 70.000 Mark anwachsen, die AWO hofft nun auf Rettung des Projekts durch den Senat. Doch die Hansestadt drückt selbst ein gewaltiger Schuldenberg – das Haushaltsdefizit für dieses Jahr, so schätzen Senatsmitarbeiter, wird 87 Millionen Mark betragen. Schon im Juli machte die AWO das Jugendamt auf die drohende Pleite aufmerksam. Der Brief blieb bis heute unbeantwortet – statt dessen schickte die Behörde einen potentiellen Nachmieter in die gutbesuchte Begegnungsstätte, „eine haarsträubende Verfahrensweise“, so eine AWO-Angestellte.

In der Oberstadt herrscht angespannte Ruhe, in den Vororten brodelt es, im Überseehafen entsteht inmitten von Bauschutt und Trümmern ein neues Handelszentrum. Als es noch keine Zeitungen und Telefonverbindungen gab, brachten Seeleute Neuigkeiten von einem Ort zum anderen. Folkert Janssen glaubt, daß diese althergebrachte Form der Nachrichtenübermittlung die einzige Chance ist, die Rostock hat, um sich zu rehabilitieren. Die Matrosen aber haben Angst vor dem Landgang. Die Rostocker müssen wohl oder übel an Bord.