■ Der 9. November 1918, 1923, 1938, 1989 und 1992
: Pogrom und Revolution

Dem kritischen Publikum schien alles klar: das Datum geeignet wie kein anderes. Wenn schon ein Nationalfeiertag, so wurde vor gut zwei Jahren gesagt, dann dieser. Theodor Eschenburg gehörte zu den Befürwortern, Peter Glotz, Manfred von Ardenne und viele andere. Der Tag symbolisiere die deutsche Geschichte – Niederlage und Glück, Licht und Schatten. Der 9. November! Tag der Revolution von 1918 und des – abgeschlagenen, später gefeierten – Hitler- Putsches von 1923, Tag des Juden- Pogroms von 1938 und Mauerschleifung von 1989.

Die Forderung scheiterte. Sie scheiterte am entschiedenen Widerspruch von Heinz Galinski und an der damaligen Ungebrochenheit des regierenden Konservatismus – am Bauchgefühl von Helmut Kohl. Und es ist gut so!

Nationalfeiertage symbolisieren die Erinnerung an Überwundenes: an die zertrümmerte Bastille, das zerschlagene koloniale Joch, Schandtaten und Niederlagen der Tyrannen. Unsäglich, wenn heute, im Deutschland des Jahres 1992, der „Reichskristallnacht“ von 1938 per Nationalfeiertag gedacht werden müßte: in einer Situation, in der Pogrome gegenwärtig, die Zerstörung jüdischer Friedhöfe und Mahnmale allnächtliche Realität geworden sind. Wie sollte der Herr Bundespräsident heute den pastoralen Bogen zum 9. November 1989 finden, wo die leergefeierten Sektflaschen von damals mit Benzin nachgefüllt, brennend in die Behausungen von Flüchtlingen geschleudert werden! Wo es in der offiziellen Politik kaum je um die Wiederaufrichtung des Rechts für den bedrohten, gejagten einzelnen Ausländer geht, sondern um das „deutsche Ansehen“, die Absatzmärkte im Ausland. Wie sollte heute des 9. Novembers 1918 gedacht werden, da die sozialen Inhalte jener Tage zur selbstmitleidigen Rechtfertigung des berühmten, ewig zu kurz gekommenen Deutschen transformiert werden?

Der Stellvertretende Vorsitzende der CDU-Grundwertekommission, der sächsische Minister Arnold Vaatz – ein sogenannter „Hoffnungsträger“ des Herbstes 89 –, erklärt: Die alte DDR habe „richtiger gehandelt“, als sie darauf geachtet habe, daß ihre Gesetze auch von Ausländern befolgt und kriminell gewordene Ausländer abgeschoben wurden. Jäh verblich ein anderer östlicher Hoffnungsschimmer, Wolfgang Thierse, als ihm zu den Rostocker Ereignissen nur das einfiel: „Wir Ostdeutschen müssen erst langsam lernen, mit Asylanten und Ausländern umzugehen.“ Ein Rostocker CDU-Mann grenzte schon einmal die wenigen hier noch lebenden deutschen Juden aus. Er begründete das mit jenem „Antizionismus“, der alle Grenzen zum Antisemitismus verschwinden läßt, der nicht nur die amtlichen Israel-Politik der DDR prägte, sondern übergreifend einem deutschen Volksempfinden entspricht.

Gemessen an den deutschen Befindlichkeiten Fremden gegenüber, müssen beispielsweise die „polnische Zustände“ fast wie ein Wunder erscheinen. Obwohl die Polen aus historischen und psychologischen Gründen die Russen keineswegs lieben, hat man bisher noch nichts von Ausschreitungen gegen die massenhaft nach Polen einreisenden russischen und ukrainischen Wanderarbeiter gehört. Die besondere Sorge um das nationale Kollektiv, das war schon immer eine ganz spezielle deutsche Tugend.

Das Nachdenken über den Deutschen November führt zu einer einzigen – beklemmenden – Antwort: Die Massen, die jene Umstürze von 1918 und 1989, die eher Implosionen als Revolutionen waren, trugen und nutzten, sind von denjenigen, die sich später zu Promotoren und Mitläufern des Pogroms mauserten, durchaus nicht so verschieden, wie gerne behauptet wird. Wo in Deutschland skandiert wurde, „Fürstenblut muß fließen“, rollten zwar nie gekrönte Häupter, wurden aber am Ende aus dem Volkskörper ausgegrenzte Minderheiten – vor allem Juden – umgebracht, Vernichtungskriege vom Zaun gebrochen. Wenn die Deutschen „Friede den Hütten, Krieg den (SED) Palästen“ skandieren, dann lauert dahinter die Parole: Feuer den Asylantenheimen, keine Mieterhöhung für die Großplatte! Die Volksgemeinschaft der Versicherten, das war immer schon die heimliche Vision des revolutionären Neuen Deutschland. Es ist ein gerader Weg, der vom „Wir sind das Volk“ über „Wir sind ein Volk“ schließlich zu „Deutschland den Deutschen“ führt.

An keinem deutschen November stand die Idee der individuellen Freiheit, standen die universalen Menschenrechte im Mittelpunkt. 1918 war es zu spät, die Revolution mit der sozialen Frage überfrachtet. Es ging um den Achtstundentag, um das soziale Netz, um Fürstenenteignung und Verstaatlichung. Und 70 Jahre später war das Ziel die „Anpassung des Lebensniveaus“ bei gegebener „sozialer Geborgenheit“. Keine revolutionäre Forderung, die in Deutschland nicht etatistisch eingefangen worden wäre, kein Tarifvertrag, keine Sozialversicherung, kein Aufbauprogramm, deren Fluchtpunkt nicht das Wohl des Staats- respektive Volksganzen gewesen wäre. Arbeiterbewegung, Nationalsozialismus und der hundertjährige Primat staatlich administrierter Sozialpolitik haben dazu geführt, daß gegenüber dem Kollektiv, gleich ob sozialistisch oder völkisch gefaßt, die Vielfalt der Einzelnen, ihr differenzierter und differenzierender republikanischer Bürgersinn marginal blieben. Die symbolträchtige Bipolarität des 9. November ist keine: Es gibt einen spezifisch deutschen Einklang von Revolution und Pogrom, von kollektiver Entfesselung und Abgrenzung.

Für die deutsche Gegenwart bedeutet das: die Prinzipien der Freiheit müssen gegen die der Gleichheit verteidigt werden, Schutz und Rechtssicherheit jedes einzelnen Menschen sind die ersten republikanischen Grundtugenden – nicht die kollektive Absicherung.

Heute, da diese republikanischen Tugenden im Alltag der Bundesrepublik erdrückt zu werden drohen, wäre es fatal, sich in den billigen, überkommenen Schemata des „der Feind steht rechts“ zu verstricken. Die Linke wird zu Recht im Abseits bleiben, wenn sie die gegenwärtige Situation der Bundesrepublik zur gedankenfaulen „Rekonstruktion“ instrumentalisiert. Wer aus Diskriminierung, Haß und Pogrom, mit klammheimlicher Lust fundamentaloppositionelle „neue Identität“ saugen möchte, sich freut, daß die Koordinaten von Gut und Böse wieder ins Lot zu kommen scheinen, die gescheiterte Politik des ewig Besseren und (Selbst)Gerechten reanimiert, der hat vor dem 9. November versagt. Götz Aly