Endstation Warschauer Ostbahnhof

Rumänische Roma richten sich in der polnischen Hauptstadt auf den Winter ein/ Etappe auf dem Weg nach Westen/ Ein Slum aus Blechbuden/ Von den Behörden vergessen  ■ Aus Warschau Klaus Bachmann

Der Ostbahnhof liegt mitten in Warschaus verrufenstem Viertel Praga-Nord, zwischen Güterbahnhof, „Russenmarkt“ und dem berüchtigten Rozicki-Markt, wo mit allem gehandelt wird, was anderswo in Polen abhanden gekommen ist. Hier kommen die großen Fernzüge aus Osteuropa an, hier versammeln sich Scharen handelnder Russen, Ukrainer und Litauer, um auf ihren Zug zu warten oder die Nächte zwischen zwei Handelstagen zu verbringen, wenn sie nicht alles verkaufen konnten.

Daneben ist der Warschauer Ostbahnhof aber auch für viele Kinder, die von ihren Eltern, aus Rumänien geflüchteten Roma, losgeschickt werden, um ein paar Zloty zu erbetteln, ein geeigneter „Arbeitsplatz“. Hier können Passanten nicht einfach weglaufen oder beiseite blicken, niemand verliert gerne seinen Platz in der Schlange vor den Fahrkartenschaltern. In den Unterführungen liegen junge Mütter mit Kopftuch und Säuglingen im Arm und halten die Hände auf. Wenn es Abend und kalt wird, sammeln sie die Kinder ein und ziehen 200 Meter weiter, wo ihre Männer am Bahndamm eine Art Slum errichtet haben. Ein Dutzend Hütten aus Pappe und Wellblech, in denen Lumpenhaufen Betten ersetzen. Aus alten Kanistern und Tonnen haben sie Behelfsöfen gebastelt, geheizt wird mit gesammeltem Holz und dem Abfall, der an den Bahndämmen herumliegt. Einige Männer haben sich um ein Lagerfeuer versammelt, auf dem eine junge Frau mit Kopftuch Klöße in einer alten Pfanne brät. Aus einer der Baracken dringt süßlicher Rauch. Kleinkinder jagen sich, und obwohl es höchstens 14 Grad sind, rennen sie barfuß umher.

Er sei seit fünf Monaten hier, berichtet Sami. Unter Ceausescu habe er in einer Kolchose bei Kluj gearbeitet, da habe er auch eine Wohnung gehabt. Dann sei die Revolution gekommen, man habe seine Wohnung angezündet, er sei entlassen worden. „Die Polizei prügelt uns, wo sie uns trifft“, wirft sein Kollege ein, der einen Mitgliedsausweis der rumänischen Romapartei besitzt. „Deshalb sind wir hier, weil Polen ein westliches Land ist, eine freie Demokratie, wo man leben kann und in Ruhe gelassen wird.“ Trojan, ein wild gestikulierender, ganz in Schwarz gekleideter Mann, mischt sich ein, zieht minutenlang über Rumäniens Staatschef Illiescu her, nichts, aber auch gar nichts habe sich geändert: „Es sind die gleichen Kommunisten an der Macht wie vorher, nur daß wir unter Ceausescu noch Arbeit hatten. Es gibt keine Sozialhilfe, nichts zu essen, man kann dort nicht leben.“

Probleme mit dem Roten Kreuz

Einige der Männer möchten nach Deutschland, anderen würde es genügen, in Polen zu bleiben. „Nur nicht in diesen Bretterbuden“, meint einer. Auf das Polnische Rote Kreuz sind sie nicht gut zu sprechen. Das verkündete vor einigen Monaten, es habe den Roma Unterkunft und Verpflegung in einem Rote-Kreuz-Heim angeboten, sie hätten abgelehnt, weil sie dann nicht mehr betteln könnten. „Stimmt nicht“, ereifert sich Sami, „sie waren hier, das ist richtig, aber sie haben uns nur mitgenommen und neue Klamotten gegeben.“

Es habe dieses Angebot gegeben, bestätigt dagegen Scholastyka Sniegowska vom Polnischen Roten Kreuz, aber nur ganz wenige Romafamilien hätten es angenommen. „Nach ein paar Tagen haben sie dann die Unterkunft demoliert und sind verschwunden.“ Seither versorge man die Roma nur noch mit Kleidern, und die Armenspeisung gratis in der Rot-Kreuz-Zentrale in der Warschauer Innenstadt stehe ihnen natürlich offen. Ansonsten gebe es keine Rechtsgrundlage, die Roma anders zu behandeln: „Sie stellen ja keine Asylanträge, sondern kommen als Touristen hierher.“ Die Roma hätten gar kein Interesse, vor der Stadt in Lagern untergebracht zu werden, meint sie, „die kommen ja hierher, um an Geld zu kommen, das geht dort ja nicht“.

Würden sie Asylanträge stellen, so ein Vertreter des Warschauer Flüchtlingsamtes, hätten sie kaum eine Chance, anerkannt zu werden. „Nach unseren Informationen werden sie in Rumänien nicht verfolgt“, meint er, „die kommen hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen nach Polen.“ Es komme auch fast nie vor, daß Roma Asylanträge stellten: „In einem unserer Lager ist bisher nur eine Romafamilie untergebracht, aber die kam noch in der Ceausescu-Zeit zu uns. Davon abgesehen, haben wir praktisch weder Rumänen noch rumänische Roma als Asylsuchende. Die kommen höchstens mal, wenn sie wollen, daß wir ihnen eine Behördenangelegenheit erledigen.“

Sie hätten nichts dagegen, in einem Flüchtlingslager untergebracht zu werden, erklären die Männer am Ostbahnhof, „so wie in Deutschland oder Frankreich“. Einer der älteren Männer hat einen Bruder mit Familie in Deutschland. Vor den Neonazis habe er keine Angst, „die Polizei beschützt uns da bestimmt“, meint er zuversichtlich.

Zwischendurch nähert sich ein Fremder der Gruppe, spricht mit den Männern, gibt ihnen Feuer. Er spricht rumänisch mit deutschem Akzent, trägt eine modische Sportjacke und glänzend weiße Bastschuhe. Seine Hände sind glatt und weiß, seine Hosen gebügelt, niemand fragt ihn, woher er kommt. Nein, er wohne nicht in den Baracken, er habe in der Nähe eine Wohnung. „Ein Rumäne“, raunt der Übersetzer, der Wert darauf legt, daß die anderen Anwesenden Roma und nicht Rumänen seien, „wahrscheinlich Schlepper.“ Die Frage, ob er Deutsch verstehe, verneint der Fremde. Dann macht er sich plötzlich aus dem Staub. Über Schlepper, erzählt der Übersetzer später, könne man mit den Roma nicht reden, „das Thema ist tabu“.

Langsam wird es dunkel, aus immer mehr Hütten dringt dicker, süßer Rauch durch verrostete Ofenrohre, die Schornsteine ersetzen. Was, wenn der Winter kommt mit bis zu 20 Grad minus, wie es in Polen häufig vorkommt? Trojan, der davon träumt, in die USA auszuwandern: „Entweder wir kommen hier in ein Lager, oder wir müssen unsere Hütten ordentlich abdichten.“ Die Botschaft kümmere sich nicht um sie, „weil wir immer so über Rumänien schimpfen“.

Lieber Bettelei als Diebstahl

Vor kurzem wollten sie zu viert zur Botschaft und seien in der Straßenbahn beim Schwarzfahren erwischt worden. Geld hatten sie nicht, also hätten die Kontrolleure sie mit Tränengas vollgesprüht und ihnen die Pässe abgenommen. Die lägen jetzt bei der Polizei, die sie nur gegen Zahlung von umgerechnet 60 Mark herausrücke. Soviel betrage die Strafe für Schwarzfahren.

Die Frauen und Kinder schicken sie zum Betteln in die Stadt, die Männer betteln nicht, „weil uns die Leute sonst verjagen würden“. Im Lager ist nur eine junge Frau mit einigen Kleinkindern, sie steht aber fast nur stumm dabei. Als eines der Kleinen sich zu weit von den Baracken entfernt, rempelt ihr Mann sie an. Wortlos rennt sie dem Kleinen hinterher. „Was wollt ihr“, gestikuliert Trojan, „ist doch besser, wir betteln, als daß wir euch umbringen und ausrauben.“ So gebe es mit der polnischen Polizei auch keine Probleme, „die fahren nur ab und zu vorbei“. Nur einmal habe ihnen jemand eine Baracke niedergebrannt, sonst kümmere sich einfach niemand um sie. Weder die handelnden Russen und Ukrainer, nicht einmal die polnischen Roma, mit denen sie nur wenig Kontakt hätten.

Als pötzlich ein alter polnischer Fiat auf die Baracken zurumpelt, rennen die Männer auf ihn zu. Ein Mann steigt aus und zieht einen Sack aus dem Kofferraum. Einer der Männer greift ihn sich und trägt ihn zu den Hütten. Der Fiat- Besitzer ist einer der Anwohner, in dem Sack sind alte Kleider. Er habe in einer Illustrierten von den Leuten hier gelesen und beschlossen, ihnen seine Altkleider zu bringen, „statt sie wegzuwerfen“. Die Bezeichnungen Sinti und Roma sind in Polen völlig unbekannt. „Zigeuner sind schließlich auch Menschen“, stellt er fest, „und die da haben ja wirklich nicht viel.“ Das hat er, wie sich im weiteren Gespräch herausstellt, eigentlich auch nicht. „Wenn ich mich nicht selbständig gemacht hätte, wäre ich jetzt arbeitslos. So halte ich mich mit Dienstleistungen über Wasser.“ Die Dienstleistungen bestehen im Reinigen von fremden Wohnungen, Desinfizieren und der Ungeziefervertilgung.

Im diffusen Licht des Lagerfeuerchens, das noch durch die Rauchschwaden der Hütten verdunkelt wird, verhandeln die Männer über die Aufteilung des Pakets. Bald werden die Frauen von ihrer Betteltour zurückkommen. „Wenn du beim Roten Kreuz was Besseres für uns heraushaust“, sagt Trojan zum Übersetzer, „dann zünden wir den ganzen Mist hier an.“ Er bildet mit den anderen Männern einen Halbkreis und hält eine Art Schwur zur Bekräftigung ab. Ach ja, und um die Pässe soll er sich noch kümmern...