■ Lehren aus einem halbverpatzten Berliner Sonntag
: Die verunsicherte Republik

Ordnung ist fürwahr eine deutsche Tugend. So gibt es Anliegen, für die zu demonstrieren in Deutschland nur bestimmten Personen mit klar umrissener politischer Gesinnung zusteht. Alles andere verstieße gegen die politische Hygiene. Nehmen wir beispielsweise den grassierenden Rechtsradikalismus und die Ausländerfeindlichkeit. Wer wahrhaft berechtigt ist, sich diesen Problemen demonstrativ zu widmen, läßt sich im einfachen Spiegelverfahren ermitteln: Linksradikale und Ausländerfreunde. Der Präsident, der Kanzler, das unter Generalverdacht stehende Volk zählen bekanntlich nicht zu dieser politischen Spezies. Daran ist die Berliner Demonstration gescheitert. Es war der klare Verstoß gegen die guten, alten Sitten der politischen Auseinandersetzung, der da am Sonntag mit Steinen und Trillerpfeifen annonciert wurde. Wenn in Deutschland plötzlich die falschen Leute für die Würde des Menschen demonstrieren, verstößt das gegen die Würde des radikalen Rests. „Wehret den Anfängen“, lautet dann die doppelt gefügige Parole.

So mißlang das ersehnte Symbol für ein tolerantes, selbstgewisses und demokratisches Deutschland, das die Demonstration hätte erbringen sollen. Schade. Am Ende zählten im Berliner Lustgarten nicht die 300.000, nicht der sonntägliche Sprung der Parteipolitiker über ihren Schatten, nicht der Bundespräsident, der mit seiner Rede – entgegen der Absprache auf Unverbindlichkeit – direkt in die brisante Asyldebatte eingreifen wollte; am Ende dominierten allein die bornierten Reflexe eines Häufleins linker Ordnungshüter und ein martialisch wirkender Polizeikordon, hinter dem Richard von Weizsäcker mühsam zu Ende brachte, was er zu sagen hatte.

An der linksradikalen Reaktion im Lustgarten bestätigt sich eine Ahnung: Bei den prinzipienfestesten Ausländerfreunden paart sich das lodernde Entsetzen über den neuen Rechtsradikalismus mit der spürbaren Erleichterung, daß die überkommenen Facetten links- eingefleischter Weltsicht plötzlich doch noch einmal Sinn zu machen scheinen. „Rostock“ ist nicht nur entsetzlich, es ist zugleich identitätsstiftend. Am Bösen rekonstruiert sich das Gute. Das Gute aber ist, zumal in Deutschland, links, exklusiv und in der Minderheit. Wo erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Hunderttausende gegen Rechtsradikalismus und Ausländerhaß auf die Straße gehen, ist diese gerade unerwartet zurückgewonnene Übersichtlichkeit schon wieder bedroht: Die linke Szene reagiert – um ihrer selbst willen. Mit Steinen werden die Fronten erneuert. In der handfesten Entlarvung der „Heuchler“, der Falschen also, die für die richtige Sache demonstrieren, erschöpft sich schon der ganze Inhalt. Ein wütend-blödes Spiel, das der bereitliegenden Formel vom demokratiegefährdenden Links- und Rechtsextremismus auf Dauer die Plausibilität sichern wird. Nach der Unterscheidung zwischen Steinen gegen Redner auf der einen, Brandflaschen gegen Asylbewerber auf der anderen Seite, steht einem am Tag nach der Demonstration nicht der Sinn.

Doch beunruhigender als die handgreifliche Intoleranz der tausend Störer sind die verunsicherten Reaktionen. An ihnen erst zeigt sich die Dünnhäutigkeit der Republik. Kohl sieht den „Terror der Straße“. Das ist das Risiko symbolischer Politik, daß sie mit vergleichsweise geringen Mitteln zum Scheitern gebracht werden kann. Doch wo das Symbol mißlingt, muß nicht zwangsläufig auch verschwinden, was da symbolisch zum Ausdruck gebracht werden sollte: die Selbstgewißheit der bundesdeutschen Demokratie. Doch vom zivilen Gemeinsamen blieb am Sonntag nachmittag nur das Hektisch-Konfrontative, die Selbstgewißheit schlug um in Verstörung. Der Versuch, ein Zeichen zu setzen, war wichtig; daß die friedliche Demonstration der 300.000 am Ende ins Zwielicht gepowert wurde, ist ärgerlich. Doch tausend schadenfrohe Störer als Menetekel der bedrohten Demokratie?

„Weimar“ heißt jetzt erneut die passende Chiffre. Mit ihr ist bedächtiger Umgang geraten. Wer vom Selbstmord spricht, ist gefährdet. Wer leichtfertig Weimar beschwört, befindet sich schon auf dem Weg dorthin. Die Frage nach dem Zustand bundesdeutscher Politik und Gesellschaft, nach ihrer zivilen, rechtsstaatlichen und demokratischen Substanz ist heute bedrohlich aktuell. Doch an der Parallelisierung mit den späten 20er und frühen 30er Jahren stört das reflexhaft Denkfaule und Selbstgerechte. Mit dem Verdikt „Weimar“ werden Debatten in der Regel nicht eröffnet, sondern abgeschnitten. Es bezeichnet die Zerstörung der ersten deutschen Republik durch den entfesselten Links- und Rechtsextremismus – und damit immer schon die anderen. Doch was ist dazwischen? Weimar scheiterte nicht einfach an bewaffneten, extremistischen Minderheiten, sondern daran, daß die republikanische Substanz von den Polen her aufgesogen wurde. Deshalb sind die „Lehren aus Weimar“ mit der Entschlossenheit zur „wehrhaften Demokratie“ kaum schon gezogen. Die Verteidigung des Rechtsstaates erfordert zugleich die sichere Gelassenheit, die freilich dann schon im Schwinden begriffen ist, wenn die Rede von „Weimar“ Konjunktur bekommt.

Die Bedrohung kommt aus der Mitte, vom unernsten Dilettantismus Björn Engholms, vom Notstandsgerede Helmut Kohls, von der Bereitschaft der etablierten Politik, die Hysterie und die Polarisierung der Ränder auf zivilerem Niveau zu reproduzieren und politische Divergenzen in der Sache zu existentiellen Problemen der Demokratie zu stilisieren.

Die Manifestation im Berliner Lustgarten ist an linker Zerstörungswut gescheitert. Doch das, was die friedliche Demonstration signalisieren wollte, ist damit ja kaum schon passé. Schutz der Menschenwürde, Gemeinsamkeit der Demokraten, Zivilcourage und vernünftige Auseinandersetzung, der Anspruch vom Sonntag gilt weiter. Was von ihm zu retten ist, wird sich allererst am Fortgang der Asyldebatte wie an der Entschlossenheit zeigen, mit der die Bundesrepublik die hier lebenden Ausländer gegen Übergriffe schützt. Bevor jetzt wieder die allzu eilfertige Rede von den „Weimarer Lehren“ umgeht, können – ein paar Etagen tiefer und unaufgeregter – die Lehren aus einem halbverpatzten Berliner Sonntag gezogen werden. Was als Symbol mißlang, ließe sich im politischen und gesellschaftlichen Alltag demonstrieren: die Zukunftsfähigkeit der Republik. Dann jedenfalls wäre auch der telegene Berliner Mißerfolg leicht zu verschmerzen. Matthias Geis