■ Zur Eröffnung des Hauptverfahrens gegen Honecker & Co
: Krokodilstränen für Honecker?

In diesen Tagen, da der jämmerliche personelle Rest des Marxismus-Senilismus auf deutschem Boden seinem rechtsstaatlich-gepflegten Strafprozeß entgegendämmert, wird manche Krokodilsträne für Erich Honecker und die Seinen vergossen und die neuere Krebsforschung bemüht: Die dem Tode Geweihten lassen grüßen! Ungeachtet dessen mahlen die Mühlen des deutschen Rechtsstaates – herzlos und antikommunistisch wie eh und je...

Jeder Angeklagte hat das Recht, für sich und seine Sache Stimmung zu machen, die Öffentlichkeit für sich einzunehmen. Rebellen und Aufrührer, Revolutionäre aller Schattierungen fühlen sich dazu stets auf besondere Weise herausgefordert. Sie boten der Siegerjustiz von heute selbstbewußt die Stirn – als Sieger der Geschichte von morgen. Hans Magnus Enzensberger hat in dem 1970 erschienenen Band „Freisprüche. Revolutionäre vor Gericht“ von Gracchus Babeuf und Karl Marx bis Rosa Luxemburg und Fidel Castro aufschlußreiche Zeugnisse dieser Rhetorik herausgegeben. Und Jacques Vergès, der nicht nur den Lyoner Gestapo- Chef Klaus Barbie, sondern auch Mitglieder der algerischen FLN verteidigte, beschreibt in seinem Buch „Konfrontation oder Anpassung“, wie in politischen Prozessen die Legitimität eines Gerichts und der von ihm repräsentierten Herrschaft erschüttert werden kann.

Wer dagegen einen kurzen Blick in das unlängst publizierte Büchlein „Erich Honecker zu dramatischen Ereignissen“ wirft, erkennt rasch, daß sich mit gesammelten Zerstreutheiten dieser Art kein politischer Prozeß offensiv führen läßt. Honeckers realsozialistisches Ostinato wirkt nicht nur desorientiert, sondern ist ein Dokument der politischen Verkalkung allerersten Ranges: noch im Scheitern sind Gestalten seines Formats keiner respektablen Geste fähig.

Der Sozialismus an der Staatsmacht, von verbeamteten Parteifunktionären unter rabiater Obhut der sowjetischen Besatzungsmacht zu Tode verwaltet, mit deutscher Gründlichkeit eingemauert, auf daß die werktätigen Massen nicht stiftengehen – das ist nicht der Stoff, aus dem flammende Verteidigungsreden gemacht werden.

Albrecht und Stoph erwirkten bereits Haftverschonung, so fair kann und muß der Rechtsstaat sein. Auch Erich Honecker ist schwer krank; er leidet an Leberkrebs. Die ärztlichen Gutachten geben ihm kaum noch zwei Jahre. Doch selbst wenn das Gericht seine Haftunfähigkeit feststellen sollte (meinetwegen mit derselben Großherzigkeit, in deren Genuß mancher angeklagte Nazi kam): Was besagt das darüber, ob und wieviel Stunden am Tag der Mann verhandlungsfähig ist?

Oder will man uns weismachen, ein Prozeß sei inhuman und sinnlos, nur weil er vielleicht gegen den einen oder anderen Angeklagten früher oder später eingestellt werden muß? Oder weil einer die Strafe, zu der er – vielleicht – verurteilt wird, nicht mehr ordnungsgemäß absitzen kann? Als Strafzwecke sind dem geltenden Recht nicht nur spezialpräventive, also täterbezogene Gesichtspunkte, geläufig, sondern auch generalpräventive, beispielsweise solche der Abschreckung oder der Wiederherstellung des „Rechtsfriedens“. Die Geschundenen des SED-Regimes etwa haben ein legitimes Interesse, daß auf rechtsstaatliche Weise eine Feststellung über die strafrechtliche Schuld einiger Hauptfiguren der SED-Führungselite getroffen wird. Einerlei, ob Sanktionen verhängt oder an den Verurteilten noch vollstreckt werden können.

Kürzlich wurde der ehemalige Generalmajor der Wehrmacht und Gründungsmitglied der 1952 verbotenenen „Sozialistischen Reichspartei“, der 80jährige Altnazi Otto-Ernst Remer, wegen Volksverhetzung zu 22 Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Niemand hat öffentlich darüber nachgedacht, wie es um seine Gesundheit bestellt ist. Oder ob es Sinn macht, daß ein Überzeugungstäter wie er wegen eines Propagandadelikts, der Verbreitung der sogenannten „Auschwitzlüge“, eingesperrt wird.

Es geht freilich nicht nur um die Haft- und Verhandlungsunfähigkeit von Honecker und Genossen. Solange gegen subalterne Handlanger des Regimes im mittlerweile sechsten Mauerschützenprozeß verhandelt wird, bleibt das Verfahren gegen die Verantwortlichen des Grenzregimes ein notwendiges Übel – ganz gleich, welches Niveau diese Veranstaltung haben wird. Da verfängt es auch nicht, daß Honecker schon einmal in Moabit und Brandenburg in Nazi-Haft saß. Der Kampf gegen Hitler verleiht keine strafrechtliche Immunität bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Der immer wieder ins Spiel gebrachte Volksgerichtshof-Bonus für den gestürzten Staatsratsvorsitzenden ist daher historischer Antifa-Kitsch und legt deutsche Kontinuitäten nahe, die so nicht mehr fortwirken.

Es gibt grundsätzlichere Einwände gegen dieses Verfahren als jene, die in der Person der verdorbenen SED-Greise liegen. Vor allem den, daß DDR-Gesetze nicht umstandslos unter Rückgriff auf einen moralisierenden Rechtsbegriff zu ungültigem „Unrecht“ umdefiniert werden dürfen. Weil andernfalls mit dem Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) eine unverzichtbare Bedingung für jedes rechtsstaatliche Strafverfahren umgangen wird (vgl. taz vom 14.8.92).

Gestützt auf solche rechtlichen Überlegungen, hätte die 27. Große Strafkammer des Landgerichts Berlin die Eröffnung des Hauptverfahrens durchaus ablehnen können. Richter Hansgeorg Bräutigam indes gehört nicht zu jenen, die sich um formaler Rechtsprinzipien willen, um einen außergewöhnlichen Strafprozeß bringen; um einen medienträchtigen Prozeß, den die graue Routine der Dienstgeschäfte, wenn es gutgeht, gerade einmal im Leben eines Strafrichters zu bieten hat. Hansgeorg Bräutigam, so dürfen wir vermuten, wird noch zu höherer Form auflaufen als an jenem Tag, da er dem aus der Untersuchungshaft vorgeführten Erich H. das vertraute Gespräch mit dem Vorgeführten Erich M. untersagte. Das ist er nicht nur der ihm nachgesagten Eitelkeit schuldig, sondern auch den Erwartungen der Öffentlichkeit, die einem Prozeß entgegensieht, der bei aller Rechtsstaatlichkeit ja auch ein wenig Spektakel und Unterhaltung bieten soll.

Heute also wird sich im Saal 700 des Kriminalgerichts Moabit der Vorhang heben. Dann wird vom Debakel eines Rechtsstaates zu berichten sein, der Regierungskriminelle mit den gegen gewöhnliche Totschläger und Eierdiebe geschmiedeten Waffen des Strafgesetzbuches von 1871 zur Strecke bringen will.

Das diffuse, sich justizkritisch gebende Zartgefühl, das Erich Honecker und den Seinen im Vorfeld des Prozesses zuteil wird, verdient unsere Aufmerksamkeit. Es schwimmt nicht nur mit dem Strom der vorherrschenden Indifferenz, der im Grunde einerlei ist, wie mit dem deutschen demokratischen Rest umzugehen sei. Es lebt vor allem von dem untergründig wirksamen, das Rechts-Links-Schema überwölbenden „Konsens“, Politik dürfe unter keinen Umständen etwas mit Gewalt zu tun haben. Das macht blind für die Schattenseite der friedlichen Revolution. So wird gestrauchelten Potentaten eine eher unschlüssige denn aufgeklärte Nachsicht zuteil. Eine Nachsicht, deren moralisierendem Politikbegriff die Französische Revolution als eine einzige irre, ungezügelte Bluttat erscheinen muß. Hierzulande köpft man keine Könige. Nicht einmal hochsymbolisch und rechtsstaatlich sublimiert. Horst Meier

Jurist und Autor, lebt in Hamburg