Solidaritätsadresse: Elfenbeinturm

Deutsche Dichter lesen in deutschen Asylen  ■ Von Stefan Koldehoff

Die ganze Aktion habe kein Ergebnis gebracht und sei deshalb „kläglich mißlungen“, wußte Marcel Reich-Ranicki schon am folgenden Tag. Er hatte, wie viele andere, nicht begriffen, worum es gehen sollte: ein bewußt kleines Zeichen der Solidarität und gegen die Fremdenfeindlichkeit hatte die in Wuppertal ansässige Else-Lasker- Schüler-Gesellschaft (ELSG) setzen wollen, als sie vor einigen Wochen kurzfristig deutsche SchriftstellerInnen bat, ihre Werke in deutschen Asylwohnheimen zu lesen. In je einem Heim in den 16 Bundesländern sollten diese Veranstaltungen am Abend des geschichtsträchtigen 9.November beginnen, um danach an jedem Samstag in dann nur noch bundesweit einem Wohnheim ihre Fortsetzung zu finden. Ein konkretes Ergebnis kann eine solche Aktion gar nicht haben.

Die Resonanz überraschte selbst die Organisatoren: Als hätten sie nur auf eine solche Initiative gewartet, erklärten sich zahlreiche Autorinnen sofort bereit, ohne Honorar an der Aktion teilzunehmen.

Der Börsenverein des deutschen Buchhandels und die Verlagsinitiative gegen Gewalt und Fremdenhaß schlossen sich an. Zahlreiche Landes- und Kommunalbehörden unterstützen die Vorbereitungen vor Ort.

So konnten am Jahrestag von Reichspogromnacht und Maueröffnung 16 Lesungen in 16 Bundesländern stattfinden.

Daß sie damit die Diskussion über das Thema Asyl in Deutschland nicht beenden würden, war den OrganisatorInnen im Vorfeld nach eigenem Bekunden ebenso klar, wie das Risiko des vom Spiegel erhobenen Vorwurfs, sie benutze die Wohnheime und die Flüchtlinge nur als Bühne für eine publikumswirksame und publicityträchtige Schauveranstaltung. Die Lesungen waren deshalb bewußt keine Großveranstaltungen. Um die Öffentlichkeit im großen Stil über die Medien, über teure Plakate, Handzettel und direkte Ansprache einzuladen, fehlten ohnehin Zeit und Geld.

Trotzdem las Yaak Karsunke in Berlin vor 100 Flüchtlingen, Utz Rachowski und Zehra Cirak hörten in Hamburg und Hans-Christoph Buch in Wuppertal jeweils 150 überwiegend deutsche Menschen. An alle Veranstaltungsorte waren im Vorfeld Einladungen an die Flüchtlinge in deren Landessprachen geschickt worden. Fast überall standen außerdem Dolmetscher zur Verfügung, die die Lesungen und die anschließenden Diskussionen übersetzten. Bei der Lesung von Katja Lange-Müller im Zentralen Aufnahmelager Oldenburg in Niedersachsen lagen sogar schriftliche Übersetzungen bereit.

Der Erfolg einer solchen Aktion bemißt sich nicht nach der Anzahl der anwesenden Köpfe, sondern nach dem, was in ihnen vorgeht:

in Rostock konnte Joachim Seyppel seinen Text in der Tasche lassen. Die BesucherInnen seiner Lesung wollten lieber konstruktiv über die deutsche Ausländerpolitik und ihre Folgen diskutieren.

In Oldenburg entstand die Idee, auch rumänische AutorInnen für und mit Roma und Deutschen lesen und diskutieren zu lassen.

Zwei selbstgesteckte Ziele hat die Lyrikaktion der Else-Lasker- Schüler-Gesellschaft damit trotz aller selbst- und fremdverursachter organisatorischer Mängel und an verschiedenen Orten magerer BesucherInnenresonanz erreicht: Die von ihr veranstalteten Lesungen haben endlich öffentlich und deutlich gefordert, daß die augenblickliche Diskussion über die Flüchtlingsproblematik wieder mit dem Kopf und nicht mit den Fäusten ausgetragen werden muß.

Trotz entsprechender Ankündigungen gab es keinen gewalttätigen Zwischenfall. Und die überwiegend positive Resonanz der nicht eben zahlreich zuhörenden Flüchtlinge macht auch deutlich, daß viele von ihnen auf ein Zeichen der Solidarität gewartet haben. Fortsetzung folgt wöchentlich.