Nur im Jamrud-Gefängnis herrscht Gedränge

Peshawar, Hauptstadt der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan, leert sich — millionenfach kehren die Afghanen nach Hause zurück/ Rezession in den Schmuggelbazars  ■ Aus Peshawar Bernard Imhasly

Dreizehn Jahre lang war das pakistanische Peshawar die inoffizielle Hauptstadt Afghanistans. Am Fuß des Khyber-Passes gelegen, wurde es 1979 zum Einfallstor für über 3,5 Millionen Flüchtlinge in die Gebiete der stammesverwandten Paschtunen. Peshawar wurde Sitz der Exilregierung der Mudschaheddin, dazu Operationsbasis der UNO-Hilfswerke und von über hundert privaten Hilfsorganisationen. Als Kapitale der pakistanischen „North West Frontier Province“ wurde die Stadt auch Zentrum einer riesigen Flüchtlingsökonomie. Die 255 Lager verwandelten sich allmählich in afghanische Dörfer, in die täglich Tausende Tonnen von kostenlosen Lebensmitteln, Kerosin, Wasser und Baumaterialien hineinflossen.

Je mehr sich der Krieg seinem Ende näherte, desto größer wurde die Furcht pakistanischer Bürger, daß viele dieser Flüchtlinge vielleicht gar nicht nach Afghanistan mehr zurück wollten. Sie verwiesen auf die Aktion des UN-Flüchtlingswerks (UNHCR), das seit 1990 jeder Familie gegen Rückgabe des Flüchtlingsausweises 300 Kilo Weizen und 3.300 Rupien (etwa 190 Mark) anbot, um sie zur Rückkehr zu bewegen. Nur wenige gingen darauf ein. Wie ihre Schicksalsgenossen überall auf der Welt schienen auch diese Flüchtlinge im Exil allmählich Wurzeln zu schlagen.

Doch die Afghanen sind keine „Wirtschaftsflüchtlinge“. Als in diesem April das Regime von Präsident Najibullah plötzlich einstürzte, setzte ein Sturm auf die Umtauschzentren ein. Selbst die Gefahr verminter Felder und Häuser hielten die Menschen nicht zurück. Waren es 1991 200.000 Rückkehrer gewesen, schwoll die Zahl in den ersten sieben Monaten dieses Jahres auf eine Million an und dürfte bis Ende 1992 1,5 Millionen erreichen. Innerhalb eines Jahres werden damit fast zwei Drittel aller afghanischen Flüchtlinge aus Pakistan in ihre Heimat zurückgekehrt sein.

UNHCR-Gelder zur Beamtenbestechung

Mohammed Khoshkiar ist einer der Flüchtlinge, der im umfunktionierten Gefängnis von Jamrud seinen Ausweis gegen Geld und Getreide eintauscht. Einige seiner Verwandten sind bereits ins Dorf zurückgekehrt und haben den Winterweizen gesät. Sie wohnen dort noch in Zelten außerhalb des Dorfes, da die Häuser vermint und zudem so verfallen sind, daß sich darin nicht mehr leben läßt. Mohammed wird daher, neben dem Hausrat und der einen Kuh, auch die Dachbalken, die Holztüren und Fensterrahmen seiner Lagerbehausung auf den Lastwagen laden. Die 3.300 Rupien wird er für den Transport ausgeben müssen — und für die pakistanischen Beamten, die immer irgendwo die Hand aufhalten. Auch die 300 Kilo Weizen werden nicht genügen, um bis zur Winterernte zu überleben. Ein Bruder wird daher seine Karte nicht eintauschen und im Lager bleiben. Mit dessen Einkommen aus Gelegenheitsarbeit wird es vielleicht gelingen, die Familie durch den ersten Winter zu bringen.

Mohammeds Verhalten gibt einige Aufschlüsse darüber, warum die meisten afghanischen Flüchtlinge das Exil nicht zur neuen Heimat gewählt haben. „Meist sind Familien nicht allein geflüchtet“, meint Wendy Batson vom UNHCR. In der Regel hatte die ganze Dorfgemeinschaft die Flucht gewählt. Durch die Wanderung auseinandergetrieben, drifteten die Familien allmählich wieder in Lager zurück, in denen sie mit anderen Dorfgenossen zusammenleben konnten. Im übrigen sorgte der Krieg dafür, daß der Kontakt zur Heimat nie abbrach: Während ein Bruder in Pakistan war, kämpfte ein anderer im Widerstand.

Das Engagement als Mudschaheddin verweist auf das vielleicht wichtigste Rückkehrmotiv: dreizehn Jahre Krieg haben so viele Männer hingerafft, daß das Gleichgewicht der Geschlechter völlig gestört ist, 75 Prozent der Flüchtlinge in Pakistan sind Frauen und Kinder. Die wenigen arbeitsfähigen Männer sehen in der Rückkehr auf ihre Äcker die einzige Möglichkeit zum langfristigen Überleben ihrer Familien. Der Andrang in den „Encashment Centers“ nach dem Fall von Najibullah wurde zeitweise so groß, daß in der Provinz das Getreide ausging und das UNHCR vor einer Liquiditätskrise stand.

Der Ausbruch von Feindseligkeiten zwischen den siegreichen Mudschaheddin bewirkte dann einen Rückgang und verschaffte dem überforderten Hilfswerk etwas Luft. Im Endeffekt hatten die Feindseligkeiten allerdings eine fatale Wirkung auf das Repatriierungsprogramm. Ein dringender Appell des UNO-Generalsekretärs brachte statt der benötigten 180 Millionen nur gerade 50 Millionen Dollar zusammen — die Geberstaaten waren der innerafghanischen Zwiste offensichtlich überdrüssig geworden.

Das Geld reicht gerade für die Repatriierung. In den Budgets für Wiederaufbau — Wasserversorgung, Gesundheitsdienst und Entminung — klaffen große Löcher. „Ist es nicht paradox“, meint der UNHCR-Delegierte Nicholas Morris, „während vieler Jahre hat die westliche Welt die afghanischen Flüchtlinge durchgebracht, und nun, wenn endlich der Moment der Heimkehr da ist, wird man ihrer überdrüssig und läßt sie stehen.“

Nach Kabul will keiner

Auch für die privaten Hilfsorganisationen wird die politische Unsicherheit in Kabul allmählich zum Problem. Viele hatten geplant, ihren Sitz in die Hauptstadt zu verlegen. Nun sind sie gezwungen, ihre Hauptquartiere bis auf weiteres in Peshawar zu behalten. Darüber freuen sich am meisten die vielen pakistanischen Hausbesitzer, für die der Krieg ein gutes Geschäft gewesen ist.

Die Stadt am Fuße des Khybers ist den Afghanen denn auch buchstäblich entgegengekommen. Früher breitete sich westlich vom verwinkelten Bazar und dem militärisch abgezirkelten Cantonment- Quartier nur eine Halbwüste aus. Heute zieht sich die Stadt beinahe bis zum alten Fort von Jamrud hin. Dazwischen liegt „University Town“, dessen Straßen mit Schildern für die vielen „Afghan Relief Groups“ übersät sind, sowie der Kachhagarhi-Slum, wo noch immer 120.000 Flüchtlinge hausen. Wie ein Schmuckstück breitet sich daneben Hayatabad aus. Während Kachhagarhi, jahrelang mit Gratisrationen am Leben erhalten, die enormen finanziellen Anstrengungen eines armen Staates wie Pakistan verdeutlicht, haben sich in Hayatabad die Afghanen gewissermaßen bei ihren Gastgebern revanchiert: Das Villenviertel konnten sich die lokalen Geschäftsleute nur leisten, weil sie auf billige Tagelöhner aus Kachhagarhi zurückgreifen konnten. Und die Häuser vermieteten sie anschließend für teures Geld an reiche Afghanen und kriegsmüde Kommandanten.

Doch die Zeiten ändern sich rasch. Nirgends wird dies so deutlich wie im Afghanen-Basar, dem letzten Außenposten des kriegsverwandelten Peshawar. Während Jahren landete hier das Schwemmgut der westlichen Konsumwelt, von „Charlie“-Parfum bis zu elektrischen Lockenwicklern. Von Karachi zollfrei nach Afghanistan transportiert, wurde es von dort postwendend über die Grenze zurückgeschmuggelt. Heute sitzen die Händler vor ihren vollgestopften Regalen und warten auf Kundschaft.

Gedränge gibt es heute nurmehr auf der anderen Straßenseite, im Jamrud-Gefängnis, wo gegen Geld und Getreide der Flüchtlingspaß eingetauscht wird. In den Basar kommen die Afghanen dann nur noch für einen letzten Blick auf eine andere Welt.