„Immer eine Spur zu schnell“

Bei aller Kürze gab der erste Verhandlungstag im Prozeß gegen Honecker und Genossen schon einige Hinweise auf den künftigen Verfahrensstil/ Die Angeklagten wirken entspannt  ■ Aus Berlin Matthias Geis

Stehend und mit erhobener Faust zum Publikum gewandt, erwidert Erich Honecker den Rot- Front-Gruß aus der Solidaritätsecke im Saal 700. Hin und wieder ein paar „Erich, Erich“-Rufe. Noch hat im Moabiter Gerichtsgebäude der spektakuläre Prozeß nicht begonnen. Zeit also auch für Heinz Keßler, noch schnell ein paar Handküsse ins Publikum zu werfen. Honeckers Mitangeklagte, Erich Mielke, Fritz Streletz, Hans Albrecht, reden mit ihren Anwälten. Nur einer ist nicht gekommen: Ex-Ministerpräsident Willi Stoph. Der erste Verhandlungstag gerät deshalb zum kurzen Prozeß – freilich nicht im Sinne des Honecker- Solidaritätskomittees, das draußen vor dem Gebäude seinen schlimmsten Befürchtungen lautstark Ausdruck verleiht.

Nein, der Prozeß ist einfach, kaum daß er gestern morgen Punkt 10 Uhr 30 begonnen hat, schon wieder zu Ende. Das liegt an Willi Stophs Gesundheitszustand, über den sich das Gericht erst einen amtsärztlich beglaubigten Eindruck verschaffen will, bevor es in Moabit zur Sache geht. Stoph, so dessen Anwalt Henning Spangenberg, wolle sich „nicht hinter einer Krankheit verstecken“; er sei ein Mann, „der sich verteidigen würde, ließe es seine Gesundheit zu“.

Die Anwesenden hingegen wirken an diesem Morgen nicht angegriffen. Fast locker Erich Honecker. In blauem Anzug, roter Krawatte, tadellos. So könnte er auch heute wieder beim Staatsempfang – etwa mit dem Kanzler – plaudern, wäre da nicht der große Zellenschlüssel, mit dem der Justizbeamte spielt, während er sich angeregt-freundlich mit dem ehemaligen Staatsratsvorsitzenden unterhält. Entspannte Atmosphäre auf den Anklagebänken. Wie der Auftakt zu einem „Schauprozeß“, von dem die kleine Schar der Honecker-Anhänger draußen skandiert, wirkt die Szene nicht. Vier Angehörige, darunter die Mutter des letzten Maueropfers Chris Gueffroy, sind im Saal. Der Vater des im November 86 an der Berliner Mauer erschossenen Rene Groß spricht von der „Genugtuung, daß Honecker nun endlich auf der Anklagebank sitzt“.

Selbst Erich Mielke, der die Ehrenbezeugung bislang immer verweigert hat, erhebt sich, als das Gericht erscheint. Sein Antrag für den ersten Prozeßtag: Abtrennung des Verfahrens. Die Belastung durch zwei parallel laufende Verfahren, so Mielkes Verteidiger Stefan König, übersteige die gesundheitliche Verhandlungsfähigkeit seines Mandanten.

Und Stoph? Genügt das einfache Attest über Herzattacke und „Blutdruckkrise“, das die Verteidigung zur Entschuldigung vorlegt? Der Vorsitzende Richter Hans Otto Bräutigam, der sich viel verspricht von diesem Prozeß, möchte die Entscheidung über eine amtsärztliche Untersuchung erst mal zurückstellen. Honecker- Anwalt Nicolas Becker reagiert schnell und präzise. Er nutzt die Chance zur ersten Konfrontation mit dem Vorsitzenden: „Es gibt meines Erachtens in dieser Sache keine Zurückstellung.“ Schließlich sei von der Frage, ob Stoph hinreichend entschuldigt sei oder sein Prozeß abgetrennt werden müsse, „die gesamte Existenz des Verfahrens“ berührt. Das dämmert jetzt auch Bräutigam, der in den ersten Minuten „seines“ Prozesses einen eher aufgeregt-fahrigen Eindruck hinterläßt.

Beratungspause. Becker interpretiert derweil fürs Publikum Bräutigams ersten Schnitzer. Honecker auf dem Weg in die Wartezelle winkt noch einmal in den Saal, probiert sein leicht verkniffenes, schmallippiges Lächeln, wie früher. Dann ist der Prozeß vertagt. Der Vorsitzende schließt sich Beckers Argumentation an: Amtsarzt für Willi Stoph.

„Der Prozeß muß auch in der Öffentlichkeit geführt werden“, so die Maxime von Nicolas Becker. Er improvisiert seine Pressekonferenz, sichtlich gelöst, beim Abgang über die große Freitreppe. Eine Stunde wird Becker brauchen, bevor er dicht umdrängt die zwanzig Stufen geschafft hat. Noch Fragen? – Zu Richter Bräutigam vielleicht? – Der Vorsitzende ist eben „immer eine Spur zu schnell und immer eine Spur zu unjuristisch“. Viel Sympathie genießt Bräutigam bei den Verteidigern nicht. Honecker- Anwalt Wolfgang Ziegler: Wie die Kammer in der Frage von Honeckers Verhandlungsfähigkeit entschieden habe, lasse auf „Voreingenommenheit“, wenn nicht „Vorverurteilung“ schließen.

Das findet – kaum überraschend – auch der Koordinator der Honecker-Solidarität, Klaus Feske. Einer, der „jeden Marxisten als Staats- und Verfassungsfeind“ einstufe... „Ein solcher Richter ist voreingenommen; von dem ist kein gerechtes Urteil zu erwarten.“ Das läßt sich natürlich auch politisch etwas zugespitzter formulieren: „Heute, am 12. November 1992, beginnt ein Prozeß, den die Klassenjustiz des vierten Reiches für den ehemaligen Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker vorbereitet hat“, – so ein Flugblatt der KPD, das vor dem Gerichtsgebäude verteilt wird.

Honeckers Gesundheitszustand interpretiert derweil Anwalt Friedrich Wolff: Äußerlich sei dem Angeklagten nichts anzumerken. Auch Schmerzen habe er nicht. Doch die Krebserkrankung schreite „extrem schnell voran“. „Wir werden erleben, daß ein Angeklagter nach dem anderen aus dem Verfahren ausscheidet“, prognostiziert Becker. Man halte ein Verfahren für „illegal“, bei dem schon klar sei, daß der Angeklagte das Ende nicht erleben werde.

Noch hat der Prozeß nicht wirklich begonnen. Das wird auch an den nächsten Prozeßtagen so bleiben. Wird es danach gelingen, die „Kleinberliner Perspektive“ (Becker) zu erweitern und den politisch-historischen Kontext von Mauerbau und Grenzregime zum Gegenstand des Prozesses zu machen? Wie souverän war die DDR und ihre Führung? Wie akzeptiert war der Mauerbau – martialische Entschärfung des Krisenherdes Berlin – auch im Westen?

Ein weiter Weg bis zu den tödlichen Schüssen, die Honecker und seinen Mitangeklagten zur Last gelegt werden, doch notwendig im Interesse eines gerechten Urteils. Ob Richter Bräutigam sich auf die Großperspektive einlassen wird, auch daran wird sich die Fairneß des Prozesses entscheiden.