Zwischen Tradition und Assimilation

■ Ein Buch über Briefe jüdischer Deutscher

Gert Mattenklott will keine Kulturgeschichte „der Juden“ in Deutschland schreiben. Versuche zu solchen „bilanzierenden Darstellungen“ setzten sich, so sagt er, immer „dem Einwand aus, den Antisemitismus mit der Gegenrechnung von außerordentlichen Kulturleistungen aufwiegen zu wollen“. Nicht besondere Schöpfungen „wie auch immer definierter Juden“ machten den charakteristischen kulturgeschichtlichen Beitrag aus: „Jüdisch an der deutschen Kultur sind die Stigmen des Antisemitismus und die Wirkungen, die sie bei den Betroffenen auslösen.“

Um diesen Wirkungen in ihren vielfältigen, individuellen Ausformungen auf die Spur zu kommen, hat Mattenklott Privatbriefe jüdischer Deutscher vom 17. bis zum 20.Jahrhundert zusammengetragen; vorwiegend wurden herausragende Geister wie Moses Mendelssohn, Heinrich Heine oder Gershom Scholem berücksichtigt. Unter sozialpsychologischen, kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkten deutet Mattenklott die Briefe in ihrer Symptomatik für die Entwicklung jüdischen Bewußtseins in Deutschland. Zur Darstellung der Gegenwart wiederum hat der nichtjüdische Autor Gespräche mit befreundeten jüdischen Intellektuellen geführt, darunter mit Julius H. Schoeps, Peter Lilienthal und Micha Brumlik.

Entgegen der Ankündigung, bilanzierende Darstellungen würden vermieden, ist das Buch jedoch nicht frei von floskelhaften Generalisierungen. So stellt Mattenklott im Hinblick auf Heine fest, „wenn es eine jüdische Intelligenz in deutschen Briefen“ gebe, dann komme sie „in der schonungslosen Radikalität zum Ausdruck, in der typische Gedanken der Moderne zu Ende gedacht, ihre charakteristischen Seelenzustände offenbart werden, ehe sie abgeklärt und verwunden sind“. Zudem hat Mattenklott die Briefe nach Epochen sortiert: „Vorgeschichte bis zur Aufklärung“, „Das Jahrhundert der Aufklärung“, „Von deutschen Staatsbürgern mosaischen Glaubens zu Staatenlosen“ - so steht Individuelles schließlich doch beispielhaft für Epochentypisches.

Aber das Buch eröffnet auch eine Vielzahl eindrucksvoller, irritierender Perspektiven. So im Falle Jacob Bernays', der zu den bedeutendsten klassischen Philologen des 19. Jahrhunderts zählte und dennoch keinen Lehrstuhl erhielt, weil er an seinem orthodoxen jüdischen Glauben festhielt. Freunde, die ihm karrierefördernde Ratschläge zur Konversion erteilten und ihm, in der Mitte eines fortschrittsgläubigen Jahrhunderts, die „Vorurteile“ der Religion auszureden versuchten, beschied er lapidar, man habe kein Recht, die Tradition aufzulösen. Bernays: Ein Opfer des Antisemitismus, ein Opfer aber, das seiner Diskriminierung eine bewußte Haltung entgegensetzte.

Im krassen Gegensatz dazu steht Elisabeth Blochmann, die eine enge Freundschaft mit Martin Heidegger verband und die nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten als „Halbjüdin“ Lehrverbot erhielt. Elisabeth Blochman trifft der Willkürakt völlig unvorbereitet: Die nationalkonservativ denkende Frau sehnt sich danach, am vermeintlichen Aufbruch von „Volk“ und „Heimat“ teilzunehmen. Ihre Aussonderung aus der „Volksgemeinschaft“ trägt sie wie ein unfaßbares Schicksal. Mit Heidegger entsteht eine gespenstische Korrespondenz. In demütiger Gefaßtheit klagt Blochmann über ihr Unglück, keine Deutsche mehr sein zu dürfen, pathetisch gemessen drückt der deutsche Professor sein Mitgefühl aus. Vom Jüdischsein der Briefpartnerin, vom Unrecht, das den Juden geschieht, ist niemals ausdrücklich die Rede. Während der Philosoph, inzwischen Rektor der Freiburger Universität, von dem „großen Auftrag“ schwadroniert, am „Bau einer volklich gegründeten Welt mitzuhelfen“, beschreibt sich die Stigmatisierte als Opfer einer tragischen Verwechslung: „Viel leichter haben es natürlich die wirklich jüdischen Menschen. Unsereiner gehört eben nun nirgends mehr hin, da man die innerste Zugehörigkeit für nichts achtet.“

Die beiden Episoden beleuchten schlaglichtartig die extreme Spannweite des Umgangs mit dem Jüdischsein in Deutschland. Jenseits zweifelsfreier Treue zur Tradition oder assimilatorischer Selbstverleugnung suchen Juden in Deutschland heute nach Wegen, die unauflösbare Spannung zwischen zwei berechtigten Ansprüchen auszuhalten und produktiv zu machen: anders zu sein und dazuzugehören. Der Spielraum dafür wird enger, nicht erst seit den jüngsten antisemitischen Anschlägen. „Die Luft zum Atmen verdünnt sich in der Bundesrepublik“, sagte Doron Kiesel schon 1988 im Gespräch mit Gert Mattenklott: wegen einer erstarkenden Rechten, aber auch, „weil die Linke [...] von der Idee einer heilen Region, eines integren guten Deutschland zu schwärmen begonnen hat“. Richard Herzinger

Gert Mattenklott: „Über Juden in Deutschland“. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt/ Main, 204 Seiten, 34DM