Das stört keinen großen Geist

■ Astrid Lindgren zum 85. Geburtstag

Die Szene ist immer die gleiche: wenn einmal im Jahr zu Beginn der Frankfurter Buchmesse der Börsenverein des deutschen Buchhandels mit seinem Friedenspreis eine der angesehensten literarischen Auszeichnungen dieses Landes vergibt, bedanken sich die Geehrten in aller Regel mit einer formvollendeten langen Rede, in der sie jene Gedanken wiederholen, für die sie ausgezeichnet wurden. Im Oktober 1978 aber war das alles ganz anders. Hinter dem Mikrofon in der Frankfurter Paulskirche stand eine kleine Frau und tat, was sie schon immer am allerbesten konnte: sie erzählte eine Geschichte von einem kleinen Jungen.

Den schickte, weil er etwas ganz Böses getan hatte, seine Mutter in den Wald, um dort einen geeigneten Stock für eine Tracht Prügel zu suchen. Als der Kleine nach langer Zeit zurückkam, weinte er und sagte: „Ich habe keinen Stock finden können, aber hier hast du einen Stein, den kannst du ja nach mir werfen.“ So wurde seiner Mutter klar, daß Gewalt kein Mittel zur Lösung von Problemen sein kann.

Geburtstags-Kind

Die Geschichtenerzählerin feiert heute in Stockholm ihren 85.Geburtstag. Alt ist Astrid Lindgren trotzdem nicht. Wäre sie jemals gealtert, dann hätte sie mit dem Schreiben aufhören müssen. Befragt nach ihrem Schreib-Motiv und ihren Absichten gibt sie bis heute an: „Ich denke beim Schreiben nicht daran, für wen ich schreibe. Und ich will auch niemanden erziehen. Ich schreibe nur für das Kind in mir.“

Ein heute 85 Jahre altes Kind ist also dafür verantwortlich, daß sich nach 1945 die Kinderbuchwelt so grundlegend verändern konnte wie nie zuvor. 1946 war es, als Pippilotta Viktualia Rollgardinia Schokominza Ephraimstochter Langstrumpf mit ihrem Pferd „Kleiner Onkel“ und dem Affen „Herr Nilsson“ in die Villa Kunterbunt einzog. Das bärenstarke Mädchen brachte nicht nur die Welt der bis dahin wohlerzogenen Nachbarskinder Thomas und Annika Settergren völlig durcheinander. Auch das europäische Lesepublikum stand Kopf. Ein solches Buch für Kinder hatte es vorher nicht gegeben: Pippi schlief mit den Schuhen auf dem Kopfkissen, goß bei Regen die Blumen und lebte so, wie sie es wollte – und damit eben nicht, wie die Erwachsenen es vorschrieben. Erziehung war für sie ein Fremdwort – den von ihr selbst erfundenen Begriff „Spunk“ hingegen konnte sie gleich mehrfach mit verschiedenen Inhalten füllen.

Kinderverwirrung

Entsprechend gespalten reagierten die Erwachsenen auch in Deutschland, wo die Übersetzung von „Pippi Langstrumpf“ im Herbst 1949 erschienen war, auf das antiautoritäre Gör mit den abstehenden roten Zöpfen. „Welchen Dienst leisten solche Jugendbücher in einer Entwicklungsphase, deren Sinn das allmähliche Heranreifen an die Erwachsenenwelt ist?“ fragte im Mai 1955 erbost der Evangelische Buchberater. Das Lehrerblatt Bücher und Bildung hatte schon 1950 gewarnt: „So führt gerade das Fehlen alles Moralisierenden, das anfänglich so begeistert, dazu, das Buch für unsere Arbeit abzulehnen. Hier werden die Grenzen von Phantasie und Wirklichkeit so verwischt, daß Kinder verwirrt werden müssen.“

Die Kinder selbst allerdings hatten mit den Pippi-Büchern gar keine Probleme. Im Gegenteil: Als Astrid Lindgren 1953 zum ersten Mal in Hamburg, Bremen und Berlin daraus liest, stellt sie fest: „Die Kinder haben das Buch genauso gelesen, wie es gelesen werden sollte. Sie haben Pippi verstanden und geliebt von Anfang an.“ Nur langsam begriffen auch die PädagogInnen und RezensentInnen, worum es der Schriftstellerin tatsächlich ging: Astrid Lindgren wollte die Kinder als Kinder ernst nehmen und nicht als kleine Erwachsene behandeln.

„Das stört keinen großen Geist“, faßt 1955 „Karlsson vom Dach“ immer dann zusammen, wenn er sich – was er regelmäßig tut – über die Regeln und Konventionen der Erwachsenenwelt hinwegsetzt: Kinder haben ihre eigenen Maßstäbe, und Astrid Lindgren war die erste, die ihnen Wert zumaß. Wer als Kind nur „Trotzköpfchen“ lese, werde später einmal bei Courths-Mahler und Groschenromanen enden, erkannte folgerichtig 1952 die Neue Literarische Welt. Astrid Lindgrens Bücher aber führten ihre Leserinnen und Leser hin zur „guten Literatur“.

Der Tod ist ein Ritter

Daß sie einer ganz neuen Generation von Autorinnen und Autoren den Boden bereitet hatte, ist Astrid Lindgren nach eigener Auskunft nie bewußt geworden: „Ich habe ,Pippi‘ ja nur für meine Tochter geschrieben und hatte gar keine Ahnung, welche Reaktionen es auf der ganzen Welt auslösen würde. Wohin ich auch gehe, kommen Kinder und sagen: ,Oh, du schreibst die besten Bücher der Welt.‘ Aber warum das so ist, das weiß ich nicht.“

1973 weitete sie mit dem Buch „Die Brüder Löwenherz“ die Möglichkeiten des Mediums Kinderbuch noch einmal gehörig aus. Nach der starken Pippi, den fröhlichen Bullerbü-Kindern und dem Lausejungen „Michel aus Lönneberga“ erzählte sie diesmal ein Märchen von den Brüdern Jonathan und Krümel und vom Sterben. Wieder brach sie damit ein Tabu: die Konfrontation mit dem Tod durch das Medium Kinderbuch schien selbst für die Kinder der 68er-Generation unangemessen. Entsprechend heftig wurde denn auch dieses Buch in der Öffentlichkeit angegriffen: Brutalität und mangelnde Sensibilität für die Bedürfnisse von Kindern warfen ihre KritikerInnen der Autorin vor. Religiöse Fundamentalisten machten gar okkulte Wiedergeburtstheorien aus.

Wieder waren es die Kinder selbst, die ihre ErzieherInnen Lügen straften: sie erkannten, daß Astrid Lindgren nicht eigentlich über den Tod, sondern über ihre Angst vor diesem unbekannten Ereignis geschrieben hatte. In ihrem Buch erhielt der Tod die konkrete Gestalt des Ritters Tengil. Ärzte setzten den Kinderroman bald als therapeutisches Mittel auf ihren Krankenhausstationen ein. Vier Jahre später wurde Astrid Lindgren in ihrem kindgerechten Vorgehen auch wissenschaftlich bestätigt. In seiner Untersuchung „Kinder brauchen Märchen“ charakterisierte Bruno Bettelheim die Phantasie und die Märchen als das wichtigste Element, das Kinder in ihrer Entwicklung brauchen, um mit ihren Ängsten umgehen zu können.

Wer schreiben will, muß sehen

Das vorerst letzte große Lindgren- Buch erschien 1981: wie die meisten ihrer Titel ist auch „Ronja Räubertochter“, eine Hymne an die Freiheit und ans friedliche Zusammenleben, längst behutsam und werkgetreu verfilmt worden. Zu ihrem 85.Geburtstag sind alle Filme, von „Pippi“ über „Michel“ und „Bullerbü“ bis zu „Mio“, „Die Brüder Löwenherz“, „Nils Karlsson Däumling“ und eben „Ronja Räubertochter“ jetzt auch auf Video erschienen.

Ein neues Buch hat Astrid Lindgren ihren Leserinnen und Lesern zum Geburtstag nicht geschenkt. Wahrscheinlich wird auch keines mehr erscheinen: „Ich habe so schlimme Augen, und man muß doch sehen können, um darüber zu schreiben. Und ich bin soooo alt und habe soooo viele Bücher geschrieben – es kann nicht notwendig sein, daß ich damit fortfahre.“ Die berühmten drei Wünsche an die Fee Viribunda, deren Erlebnisse die fünfjährige Astrid so faszinierten, daß sie selbst zu schreiben begann, gehen denn auch in eine andere Richtung: „Ich kann nicht pfeifen, ich kann nicht Klavierspielen – und Slalomfahren kann ich auch nicht. Und ich glaube, ich werde es auch nicht mehr versuchen. Aber ich würde sowieso gern all diese drei Wünsche wegschmeißen, wenn ich dafür nur den Frieden bekommen könnte.“

Der Oetinger-Verlag hat seinen Almanach „Lesebuch 1992/93“ als Sonderausgabe allein Astrid Lindgren gewidmet. „Besuch bei Astrid Lindgren“ ist im Buchhandel erhältlich und kostet 5.80 DM.

Die Filme sind in der Reihe „Junior“ bei Taurus Video in München erschienen.