„Brasilien – wie Deutschland 1945“

■ Der Wirtschaftswissenschaftler Celso Furtado über Brasilien nach Collor und die Zukunft Lateinamerikas

Der 72jährige Furtado ist international als Vertreter der „Dependenz-Theorie“ bekannt geworden, nach der die Armut der Dritten Welt vor allem auf ungerechte Welthandelsstrukturen zurückzuführen ist.

taz: Die 80er Jahre gelten für Brasilien als verlorenes Jahrzehnt. Sind die Aussichten für die 90er Jahre ebenfalls so düster?

Celso Furtado: Dafür gibt es bedenkliche Indizien. Die internationale Wirtschaftslage ist für die Dritte Welt sehr ungünstig. Die USA absorbieren 40 Prozent des auf der Welt verfügbaren Kapitals. Die Rohstoffpreise befinden sich im freien Fall und die Zinsraten sind sehr hoch. Hinzu kommt, daß die ehemaligen sozialistischen Länder in Osteuropa große Kapitalströme anziehen. Dieses Geld fehlt Lateinamerika.

Was für Zukunftschancen hat Brasilien angesichts dieser ungünstigen Ausgangslage?

Es gibt wenige Länder der Dritten Welt, die aufgrund ihrer räumlichen Ausdehnung und potentiellen Wachstumskraft über eine beträchtliche Eigendynamik verfügen. Dazu gehören Brasilien, China und Indien. Was zur Zeit in Brasilien passiert, ist tragisch. Die Politiker erliegen dem Irrtum, daß das Land sich mit Hilfe des Exports entwickeln kann, wie das kleine Chile. Die großen, aber technologisch unterentwickelten Länder können nicht das Erfolgsmodell von Korea kopieren. Ihre Wachstumsmaschine ist der Binnenmarkt. Man darf nicht vergessen, daß Brasilien eine der größten Industrienationen der Welt ist. Ohne Wachstumsschub auf dem Binnenmarkt ist Brasiliens Zukunft ernsthaft bedroht.

Wie beurteilen Sie die Aussichten der anderen Länder Lateinamerikas?

Chile hat seine Hoffnung auf Industrialisierung bereits aufgegeben. Es hat sich als Kupfer- und Agrarexporteur einen bescheidenen Platz auf dem Weltmarkt erobert. 40 Prozent seiner Exporteinnahmen stammen aus den Kupferminen. Argentinien ist auf demselben Weg. Es exportiert Wein und Weizen, Fisch und Fleisch und leistet sich ein kleine Industrie.

Mexiko wird in Brasilien als großes Vorbild gepriesen...

Mexikos kurzfristiger Erfolg basiert auf zwei Faktoren: Billige Arbeitskräfte und demographischer Druck. Das Land lockt mit seinen niedrigen Löhnen Unternehmen aus den USA an, die ihren Produktionsprozeß nicht vollständig automatisieren können. Außerdem haben die Vereinigten Staaten großes Interesse am mexikanischen Öl, um unabhängiger vom Persischen Golf zu werden. Im Gegenzug öffnen sie ihren Markt für mexikanische Produkte und hoffen, daß dadurch auch der Strom der illegalen mexikanischen Einwanderer abebbt. Brasilien hingegen verfügt über keines dieser Vorteile.

Aber es fehlt in Brasilien an kaufkräftigen Konsumenten...

Kurzfristig ist das nicht zu ändern. Erste Voraussetzung für eine gerechtere Einkommensverteilung ist wirtschaftliches Wachstum. Doch das allein reicht nicht. Die Militärs haben über zwanzig Jahre lang Wachstum ohne Umverteilung praktiziert. Im Jahr des Militärputsches 1964 existierte bereits eine enorme soziale Unzufriedenheit. Doch die Diktatur hat den Mordernisierungsprozeß und die soziale Entwicklung Brasiliens unterbrochen.

Ist die Modernisierug jetzt möglich?

Es existiert ein positives Klima für Veränderungen. Doch das Problem ist, daß die politische Führungsschicht des Landes jegliches Vertrauen verspielt hat. Die Elite ist unfähig, die strukturellen Probleme des Landes zu erkennen, sie treibt das Land in den Abgrund. Der brasilianische Staat ist demoralisiert. Doch ich habe das Gefühl, das diese Phase der Staatsverdrossenheit dem Ende zugeht.

Was bedeutet die Amtsenthebung von Präsident Fernando Collor für die Entwicklung Brasiliens? Hat Itamar Franco die Chance, wirkliche Fortschritte zu erlangen?

Collors Mannschaft hatte überhaupt keinen Plan für Brasilien. Itamar hat die Macht, etwas zu ändern. Die Gesellschaft hat die Mischung aus Inflation und Stagnation satt und ist zu Opfern bereit. Es gibt wirklich viele Leute in Brasilien, einschließlich Unternehmer, die etwas verändern wollen. Als erstes muß die rezessive Wirtschaftspolitik aufhören. 40 Prozent der nationalen Kapazitäten liegen brach. Dies ist ein nationales Problem; auf dem internationalen Markt gibt es für brasilianische Produkte keine Absatzprobleme. Dem Staat fehlt das Geld für wesentliche Investitionen in strategischen Bereichen wie Gesundheit und Bildung. Das chronische Defizit zwingt die öffentliche Hand, ständig Kredite aufzunehmen, was wiederum in die Inflation mündet. Es ist, als ob Brasilien einen Krieg verloren hätte und völlig zerstört wäre, wie Deutschland 1945. Bisher wagt es keiner, dies der Bevölkerung zu erklären. Interview: Astrid Prange