piwik no script img

Schutz für Schutzlose

■ In diesem Jahr werden schätzungsweise 500.000 Flüchtlinge in Deutschland Asyl suchen/ 942.000 haben in den letzten zwei Jahren Deutschland wieder verlassen

Der Hohe Flüchtlingskommissar (UNHCR) zählt rund 18 Millionen Flüchtlinge weltweit. Jedoch tauchen in dieser Statistik weder die über 2,2 Millionen Palästinenser in den Flüchtlingslagern des Nahen Ostens auf noch die Bürgerkriegsopfer. Die Gesamtzahl dieser Binnenflüchtlinge kennt niemand. Auch die Asylbewerber, De-facto-Flüchtlinge oder illegalen Einwanderer in den westlichen Industriestaaten bleiben in der UNHCR-Statistik unberücksichtigt: es fehlt die Anerkennung nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder anderer völkerrechtlich bindender Abkommen.

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt die Zahl der Arbeitsmigranten weltweit auf rund 100 Millionen. Neu ist der Begriff des Umweltflüchtlings. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) definiert ihn als Menschen, der „gezwungen ist, seine traditionelle Umgebung zu verlassen, weil Umweltschäden sein Leben in Gefahr bringen“. Das World Watch Institut schätzte die Zahl der Umweltflüchtlinge Ende der 80er Jahre auf weltweit rund zehn Millionen. Laut diesjährigem UN-Weltbevölkerungsbericht wird ihre Zahl in den nächsten 35 Jahren deutlich zunehmen.

Die Tragödie von Flucht und Vertreibung spielt sich überwiegend in der Dritten Welt ab. Mit dem Exodus der Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien jedoch ist das Flüchtlingsproblem nach Europa zurückgekehrt. Über 2,7 Millionen Kroaten, Bosnier und Serben mußten ihre Heimat verlassen; von ihnen fanden über 550.000 Zuflucht außerhalb des Konfliktgebietes. Viele Flüchtlinge kommen inzwischen auch aus den südlichen GUS-Staaten. So sollen allein in Tadschikistan zur Zeit 435.000 Menschen auf der Flucht sein.

Die neuen Nationalitätenkonflikte haben das Unwort von der „ethnischen Säuberung“ geprägt. Gemeint ist das Kriegsziel der brutalen Vertreibung Hunderttausender von Menschen. Die Idee des Asylrechts — jenen Schutz zu gewähren, die in ihrer Heimat schutzlos geworden sind — ist in Europa aktueller denn je.

Die meisten registrierten Asylbewerber innerhalb Westeuropas leben in Deutschland. Das Bundesinnenministerium gab letzte Woche ihre Zahl mit 520.000 bis 550.000 an – so viele Menschen stellten 1991 in ganz Westeuropa einen Asylantrag. Insgesamt sollen sich 1,4 Millionen Flüchtlinge mit oder ohne formelle Anerkennung zur Zeit in Deutschland aufhalten.

Im letzten Jahr sind über 256.000 Asylbewerber beim Zirndorfer Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge registriert worden. In diesem Jahr werden es rund 368.000 sein, von denen nach Expertenschätzungen sechs bis zehn Prozent Folgeanträge stellen.

Bis Ende Oktober wurden 33.592 Asylverfahren (19,6 Prozent der Gesamtentscheidungen in Zirndorf) noch vor der ersten Anhörung eingestellt. Zum Vergleich: 1991 waren es 27.606 (16,4 Prozent). Ob diese Antragsteller in ihre Heimat zurückgekehrt, in ein anderes Land weitergewandert oder untergetaucht sind, bleibt unklar.

In den letzten beiden Jahren sind jeweils über 10.000 Asylbewerber und Flüchtlinge mit offizieller Unterstützung der Bundesregierung (REAG-Programm) freiwillig in ihre Heimat zurückgekehrt oder weitergewandert. In den Jahren 1990 und 1991 haben insgesamt 466.000 und 476.000 Ausländer die Bundesrepublik wieder auf Dauer verlassen.

Gemessen an der Bevölkerungszahl westeuropäischer Staaten gab es im letzten Jahr die meisten Asylbewerber in der Schweiz (62 auf 10.000 Einwohner), Österreich (36) und Deutschland (33).

Ende dieses Jahres wird in Deutschland mit 450.000 bis 500.000 Asylanträgen gerechnet, eine „Rekordzahl“, während die meisten anderen westeuropäischen Staaten weniger Asylanträge als im Vorjahr melden.

Schwierig wird der Vergleich bei den De-facto-Flüchtlingen, zumeist abgelehnte Asylbewerber. In Deutschland schätzt man ihre Zahl auf über 500.000, in Frankreich auf über 100.000. Genaue Zahlen gibt es hier jedoch ebensowenig wie in der Grauzone der illegalen Einwanderung. Betroffen sind hier vor allem die westeuropäischen Mittelmeeranrainer: In Italien und Frankreich rechnet man mit jeweils über einer Million, in Spanien und Portugal mit bis zu 300.000 und 100.000 illegalen Einwanderern, vornehmlich aus Afrika. In Griechenland sollen sich allein über 150.000 Albaner illegal im Land aufhalten. Stefan Telöken

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen