Ein Klo trennt Afrika von Deutschland

Asylheim Wismar: 300 Menschen aus 30 Nationen leben mit obdachlosen Deutschen  ■ Von Bettina Markmeyer

Heute ist Zahltag. Wie in einem Pferch stehen die Menschen. Männer drängeln nach vorn zur Glastür. Eine Frau zieht ihre Jacke enger um sich. Ein grauer Mittwoch.

Die Leute sind genervt, wütende Stimmen hallen im Treppenhaus. Immer nur zwei werden durch die Glastür auf den Flur gelassen, wo das Büro liegt. Die Prozedur dauert fast den ganzen Tag. Alle zwei Wochen müssen sich die Wismarer Asylsuchenden im größten Heim der Stadt in der Hans- Grundig-Straße die Sozialhilfe abholen. Und alle Beteiligten hassen diesen Termin. Gedränge, Durcheinander, Warterei.

Der Pförtner, an dem jeder vorbei muß, hat längst aufgehört, den Haustüröffner zu drücken. „Sollen die doch von drinne aufmachen“, brummt er in seinem verrauchten Kabuff. In der Morgendämmerung hat er den Roma-Frauen geöffnet, die mit prallen Plastiksäcken aus der Stadt zurückkamen. Anfang der Woche war Altkleidersammlung in Wismar. „Die schaffen das Zeug jetzt nach und nach hierher für ihre Leute in Rumänien.“ Da findet der Pförtner „nichts bei“. Aber den Lärm dieser Fremden kann er nicht leiden. Er schiebt seine Scheibe zu.

Das dreigeschossige Heim steht unpassend schräg zwischen den im rechten Winkel ausgerichteten Blocks des Neubaugebiets Friedenshof. Einzige Farbtupfer zwischen den notdürftig blaßgelb gestrichenen Plattenhäusern sind die gemusterten, langen Röcke der Roma-Frauen. Deren Trägerinnen allerdings sind verschrien wegen ihrer Sammeltätigkeit an den Müllcontainern und ihrer Angewohnheit, Unbrauchbares auf dem Rasen rund um das Heim zu entsorgen.

Doina Paduraro hat die Gardine zur Seite gezogen, weil unter dem Fenster der einzige Tisch steht. Darauf mischt sie in einer großen Alu-Schüssel Reis und Tomatenmark und rollt die Masse in Kohlblätter. Außer Doina sind fünf eigene und drei Nachbarskinder im Raum, ihr Mann Nistor und Pitroaca Kilimbar, der gut deutsch spricht. Dazu zwei Etagenbetten und ein normales, eine Schrankwand, ein Fernseher, Stühle, Kleiderhaufen, ein Mülleimer. Auf dem Fußboden viele Schuhe und Kerngehäuse verspeister Äpfel. Gegenüber wohnen zwei Familien in einem Raum.

Die Küche nebenan ist so dreckig, daß Doina das Essen lieber im Zimmer zubereitet und mit den Töpfen hin- und herläuft. Auf ihrem grünen Kopftuch haben sich Schweißflecken gebildet. Ein Herd ist kaputt, am anderen hat jemand alle Platten aufgedreht, obwohl nur eine — die für Doinas gefüllten Kohl — gebraucht wird. Gegenüber verhindert nur ein Stuhl, daß die Türen der leeren Schränke herunterknallen; der Boden ist glatt, weil fettüberzogen. Trotzdem springt Ana, Doinas jüngste Tochter, hier mit ihrem gelben Seil. Die anderen Kinder lungern herum, werden von Kilimbar zum Zigarettenholen geschickt, starren vom Bett aus auf das diffuse Schwarzweiß im Fernsehen. Was sie den ganzen Tag machen? Naja, im Zimmer sein, ein bißchen draußen, erzählen, Witze machen, essen, manchmal in die Stadt spazierengehen. In Rumänien waren alle in der Schule. Ohne die Rennerei seiner Frau eines Blickes zu würdigen, läßt Nistor sich auf einem Stuhl nieder und erklärt, warum die Paduraros aus Timisoara jetzt in Wismar sind.

Nistor ist Maurer und wurde nach der Revolution entlassen. So etwas wie Arbeitslosen- oder Sozialhilfe gab es nicht. Als die Familie die Wohnung nicht mehr bezahlen konnte, entschlossen sie sich zu gehen. Zuerst nach Polen, dann illegal bei Görlitz über die Grenze und weiter nach Berlin. Von Mecklenburgs Zentraler Anlaufstelle in Hinrichshagen wurden sie nach Wismar verteilt. Zwei Wochen lebte Nistor mit Frau und Kindern in polnischen Wäldern, bis die Flucht durch die Neiße gelang. Das war Ende August, erinnert er sich. Da brannte es in Rostock-Lichtenhagen. Aussicht auf Asyl haben die Paduraros nicht, aber: „In Rumänien können wir nicht leben.“

„Wenigstens die Gardinen sollen sie so vor die Fenster ziehen wie die Deutschen, habe ich ihnen gesagt, damit das Haus von außen vernünftig aussieht. Was hier drinnen vorgeht, interessiert ja sowieso niemanden.“ Martin Mücke, einer der Sozialarbeiter, könnte mit seiner kräftigen Figur auch als Schwimmtrainer durchgehen. Hätten sich seine Falten nicht in eine früh ermüdete, vom Rauchen grobporige Haut gegraben. Mit den Kollegen hat er das leerstehende Heim wieder bewohnbar gemacht und die ersten 50 Rumänen in Empfang genommen. „Mit denen haben wir gleich alle Probleme ausgekostet. Als erstes wollten die unser Essen nicht.“ Jetzt kochen die Asylsuchenden selbst, und statt 50 sind es knapp 300 aus 30 Nationen. Außerdem leben obdachlose Deutsche im Heim.

Mitte September dieses Jahres hat Mücke Nacht für Nacht mit den Männern aus dem Heim zusammengesessen, Kaffee getrunken und auf sie eingeredet, ruhig zu bleiben und die Arbeit draußen der Polizei zu überlassen. Denn die Asylbewerber wollten selbst vor die Tür und sich gegen die Jugendlichen verteidigen, die eine Woche lang Steine und Molotowcocktails schleuderten. Die Neubaubürger von gegenüber vervollständigten die Angriffe mit haßerfüllten Parolen und applaudierten ihren Aktiven. In Mückes nächtlichem Büro auf der anderen Seite entstand zur selben Zeit erstmals „eine richtige Gemeinschaft“.

Tagsüber und in Nicht-Angriffs- Zeiten ist von dieser Gemeinschaft wenig zu spüren. Vielmehr ähnelt die Heimgesellschaft dem indischen Kastensystem, nur daß hier die Unberührbaren ganz oben sind. Im dritten und teilweise auch im zweiten Stock sind die Roma untergebracht. Auf der zweiten Etage leben außerdem Rumänen, Albaner, Türken; vor allem Männer. Mit den Roma-Familien haben sie wenig zu tun: „Ich konnte sie schon in meiner Heimat nicht ausstehen, wieso sollte ich sie hier mögen?“ meint ein Rumäne abweisend. Im Erdgeschoß schließlich leben jene, mit denen auch die Sozialarbeiter am besten auskommen: Polen, Kurden, Jugoslawen, alle Afrikaner und im linken Flügel die deutschen Obdachlosen. Aber noch hier markieren blauweiße Schildchen an bestimmten Türen das Hoheitsgebiet der gastgebenden Nation: „Waschraum“ und auf dem Klo die Extra-Tür mit Extra-Schlüssel für das „Heimpersonal“. Zwischen Afrika und Deutschland liegen Tausende von Kilometern und eine Toilettentür.

Wenn die Deutschen ein paar Zimmer weiter schon beim Kaffee sind und im dritten Stock die Paduraros gerollten Kohl essen, bereitet Habib I. gerade seine erste Mahlzeit. Er hat ein Stück Rindfleisch gekauft und kocht es mit Zwiebeln, Fisch und Peperoni in Wasser. Zum Frühstück hat er eine Limo aus der Dose getrunken. Habib ist allein. Wenn er den Recorder ausschaltet, aus dem Reggae dröhnt, brummt nur noch der Kühlschrank in der aufgeräumten Küche. Die Gardine flattert am offenen Fenster. Ein kleiner Ahorn verliert die letzten Blätter. Habib sieht nicht hin, sieht nirgends hin. Er starrt. Ein Blick in seine Augen ist ein Sturz in die Tiefe.

Er floh mit dem Schiff aus Sierra Leone, Westafrika, nach Hamburg. „It's hard“, sagt er langsam, „I'm an enemy in my country — in meiner Heimat bin ich ein Feind.“ Mit der Guerilla kämpfte Habib gegen die Truppen des Militärdiktators. Die Regierungssoldaten rächten sich mit einem Massaker, bei dem sie seine ganze Familie ermordeten. „Gott hat sie geholt“, sagt Habib, „er kann auch mich holen.“ Habib ist Moslem, schreibt und spricht arabisch und neben seiner Muttersprache ein bemühtes Englisch, kann aber die lateinische Schrift nicht lesen, was ihn zusätzlich isoliert. Er schläft viel, ißt, grübelt. Manchmal geht er in die Stadt, aber nur tagsüber, aus Angst vor den Skins. Und er hat angefangen, Bier zu trinken, dänisches, in Ein-Liter-Dosen: „I'll get crazy here.“ Manche Deutsche hätten aber „ein gutes Herz“. Und manchmal trifft er jemanden, der Englisch spricht.

Martin Mücke fegt über den Flur, klopft Habib auf die Schulter: „Alles klar?“ „Alles klar“, lächelt Habib. Er würde gern Deutsch lernen. Aber für Asylbewerber gibt es keine Kurse. Mücke kommt gern auf diesen Flur. „Mit den Afrikanern hier kann man klarkommen, mal 'nen Witz machen“, auch mal freundschaftlich einen Arm um sie legen. Sie sind keine Unberührbaren. Es ist dunkel geworden. Für Mücke geht ein anstrengender Tag zuende. Für Habib hat dieser Tag nie begonnen. Zeit für eine Dose Dänisches.

Die deutschen Obdachlosen bevorzugen zum Abend Wein oder noch einen Kaffee. Die Ausländer auf ihrer Etage finden sie „ganz in Ordnung“. Günther D. meint nur, die zweiwöchentliche, tumultuarische Lohnzahlung, wie er sie nennt, „sollte nicht ausgerechnet auf unserem Flur sein“. Marion A., die mit Mann und fünf Kindern wegen Mietschulden aus ihrer Wohnung geflogen ist und zwei Zimmer im Heim notdürftig hergerichtet hat, spricht jedoch für alle, wenn es gegen „die Rumänen im Dritten“ geht. Die „waschen ihre Klamotten nicht, sondern schmeißen sie einfach weg“ und hätten die sanitären Anlagen derart kaputtgemacht, „daß es bis zu uns hier unten durchgetropft hat“. Was stimmt, wie Marions Mann Dieter bei einer kurzen Begehung demonstriert, während er sich wie zum Schutz eine Bratpfanne über den Kopf hält, die er, um sie vor dem allgemeinen Zugriff zu retten, mit aufs Zimmer nimmt. Daß jedoch auch die Frauen im dritten Stock waschen und selbst die Heizkörper in den Küchen zum Trocknen nutzen, könnte Marion leicht feststellen, wenn sie nur einmal hochgehen würde. „Aber das“, sagt sie, „werde ich nie tun.“

Die Deutschen sitzen bei weit offenem Fenster in ihren Jogginganzügen zwischen den Etagenbetten und haben so ihre Meinungen. Zum Beispiel, daß alle, „die keine politischen Asylanten sind, raus sollten aus Deutschland“. „Aber wohin“, wendet Günther ein, er, der selbst schon früh verloren hat, ein Heimkind, das die Heimatlosigkeit kennt und dennoch sanft geblieben ist. Er sagt, er wäre damals abgehauen, als „diese Skins kamen“. Er hätte „das nicht ausgehalten“.