Teutonias Boden neu bearbeiten

■ "Wohin treibt Deutschland?" - ein brillanter Vortrag des Friedensforschers Johan Galtung in der Humboldt-Universität / Deutsche Kosmologie und geologische Schichtung der Tagesordnung

Mitte. Deutschlands und auch Europas Boden muß ganz neu bearbeitet werden, wenn nicht wieder und wieder die Gespenster der Vergangenheit herauskriechen sollen. Der Boden und seine historisch-geologische Schichtung – diese Metapher durchzog den Vortrag des norwegischen Friedensforschers und Kosmopoliten Johann Galtung gestern in der Humboldt-Universität. Thema des weisen weißhaarigen Herrn im dunklen Anzug: „Wohin treibt Deutschland? Diagnosen, Prognosen, Therapien.“

Seine erste These: Um ein vereintes Deutschland zu schaffen, muß man auch eine vereinte Vision oder schlichter: Tagesordnung schaffen. Zumal seine beiden Teile von 1945 bis 1989 bloß „gehorsam und unterwürfig“ die Agendas der beiden Supermächte übernommen hätten. Nach dem Mauerfall passierte dann aber „Übernahme Nummer zwei“ im Osten. Dieser „Kolonialismus“, der „Hoffnungslosigkeit“ und ein „Gefühl der Illegitimität“ anstelle von eigenständigen politischen und kulturellen Ansätzen hervorbringe, zeitige nun fatale Folgen. In solch einem Fall komme nämlich die „alte Tagesordnung“ wieder hoch, die faschistische und die bürgerliche der „deutschen Kosmologie“. Darunter versteht Galtung die alte Vorstellung, daß Deutschland als Zentrum Europas immer das Land der großen Taten sein werde, dafür aber auch die geistige oder sogar materielle Ausdehnung nach Osten brauche. Galtungs Übersetzung: „Deutschland ist das Land der Monotheismen.“ Stets seien die Deutschen überzeugt gewesen, daß es „den richtigen Glauben“ gebe, „man muß nur danach suchen“.

Nun mache sich die vor allem im Osten bedrohte Unterklasse daran, „Teilelemente der nationalsozialistischen Geologie aufzunehmen“, während die bürgerliche Klasse „Teilelemente der deutschen Kosmologie“ reaktiviere. Letzteres vor dem Hintergrund eines Ausbeutungsinteresses: Lateinamerika und Afrika seien bereits ausgeplündert, die ehemals realsozialistischen Länder aber noch nicht ganz. Allerdings: Eine „Arbeitsteilung“ zwischen beiden Kräften sei nicht möglich, weil „die erste Gruppe der zweiten das Leben schwer macht“.

Galtung plädierte aber auch für eine „Entindividualisierung“ des rechtsradikalen Problems: „Es sind nicht einige Jugendliche oder Bonzen verantwortlich. Wenn Schönhuber verschwindet, wird es einen neuen geben. Wenn der geistige Boden ohne Tagesordnung ist, werden dieselben Unkräuter weiter wachsen.“ Und: „Eierwerfen ist keine Therapie für ein Bodenproblem“, befand er in Anspielung auf die Demonstration vom 8. November. Es gehe vielmehr darum, eine ganze Kultur zu verändern und „Modelle des guten Lebens“ zu entwerfen, in denen kapitalistische mit planerischen und mit menschlichen Elementen gemischt würden. „Die Tagesordnung schmeckt grün“, kommentierte Galtung in seinem fließenden, mit feiner Ironie durchsetzten Deutsch, „aber die Grünen haben versagt.“ Nicht etwa wegen ihres Streits zwischen Fundis und Realos. Sondern: „Wenn man einen Teutonen entteutonisiert, kommt ein Chaot raus, der einen neuen Monotheismus sucht.“ Bis zu einem gewissen Punkt sei das sogar positiv oder könne positiv umgesetzt werden: „Man bräuchte eine ständige Kommission“, die eine neue Vision oder Tagesordnung erarbeite, ohne nach dem Ersten, Zweiten und Dritten gleich ein Viertes Reich zu gründen. Ex-Außenminister Genscher könne ja als „Ruhestandsphilosoph“ dabei mitarbeiten.

Ansonsten ließ der Norweger keinen Zweifel daran, daß er Genschers Jugoslawienpolitik für „kriminell und ganz klar dumm“ hielt. Mit der Anerkennung von Kroatien und Slowenien und anschließender Bevorzugung der katholischen Kroaten habe er „einen internationalen Konflikt zu einem interstaatlichen gemacht“. Deswegen sei er auch, „genau im richtigen Moment“, zurückgetreten. Das alles, so prophezeite Galtung, werde noch große Auswirkungen haben, denn Jugoslawien mit seinen Katholiken, Orthodoxen und Moslems sei ein Mikrokosmos ganz Europas. Nachdem die europäische Union nach Genschers Beispiel die Katholiken bevorzugt habe, seien die Rufe in der russischen Presse nach einer neuen Union der Orthodoxen und in der türkischen Presse nach einer neuen Union der Moslems immer lauter geworden.

Der deprimierenden Vorstellung eines nach diesem Muster dreigeteilten Europas stellte Galtung jedoch als „Therapie“ den „paneuropäischen Staatenbund, nicht Bundesstaat“ entgegen. Und: Die Peripherie, also Ostdeutschland und ganz Osteuropa, müsse einen eigenständigen Handel entwickeln: „Thüringen muß mit Brandenburg Geschäftsverträge machen.“ Die Abhängigen, so lautete seine Schlußfolgerung aus der Geschichte des Kapitalismus, müssen sich gegenseitig aus dem Boden helfen. Ute Scheub