Öko-Perestroika für den Osten

Osteuropäische Nichtregierungsorganisationen trafen sich in Wien/ Gemeinsames Ziel ist der Kampf gegen Dreckschleudern und Zeitbomben  ■ Aus Wien Erwin Single

Lydia Popova bringt es gleich auf den Punkt: Eine nukleare Katastrophe wie 1986 in Tschernobyl, sagt die engagierte Umweltschützerin, könne in Rußland jeden Tag wieder passieren. Noch immer hängen auf dem Territorium der früheren Sowjetunion 15 Atommeiler jener Baureihe RBMK am Netz, die gefährlichsten davon in Sankt Petersburg, Kursk und Smolensk.

Schon seit Jahren kämpft Lydia Popova gegen den rigorosen Atomkurs der inzwischen untergegangenen Sowjetmacht, und sie ist dabei nicht allein. Die „Sozial- Ökologische Union“, der sie angehört, stellt mit über 100.000 Mitgliedern die größte Umweltgruppe in den GUS-Republiken und den baltischen Staaten. Der Verband fordert die Stillegung der Schrottreaktoren und schlägt dafür Energieeinsparungen und den Bau umweltverträglicher Gaskraftwerke vor. Das Angebot westlicher AKW-Hersteller, die Atomkraftwerke im Osten nachzurüsten, lehnen die Umweltschützer ab: denen, so der Tenor, gehe es schließlich nur darum, neue Absatzmärkte zu finden.

Daß es sich bei dem Gefährdungspotential nicht nur um ein Atomproblem, sondern um ein Energieproblem handelt, darüber waren sich die Vertreter von 90 Umweltorganisationen aus 27 Ländern bei ihrem Kongreß zum ökologischen Wiederaufbau in Osteuropa einig. Die Energiesparpotentiale in den ehemaligen Ostblockstaaten sind enorm: Rund die Hälfte des Stromverbrauchs in der früheren Sowjetunion ließe sich allein schon durch einfache Umrüstungsmaßnahmen einsparen, hat Jim Barnes von „Friends of the Earth“ errechnet. Doch statt dessen treiben die Regierungen die alte Energiepolitik weiter. In der ČSFR, berichtet Honza Beránek, habe sich der Kurs sogar verschärft: während der tschechische Ministerpräsident Vacláv Klaus das umstrittene Atomkraftwerk Temelin fertig bauen will, hat die slowakische Regierung ihrerseits die Arbeiten am Irrsinns-Wasserkraftwerk Gabčikovo forciert.

Für die osteuropäischen Umweltschützer ist der Kampf gegen die Atompolitik in ihren Ländern zwar die dringlichste, aber längst nicht einzige Aufgabe. So hat beispielsweise der bogenförmige Industriegürtel, der sich vom Südosten der Ex-DDR über Böhmen und Südpolen und die Ostslowakei bis nach Rumänien zieht, eine Unmenge von Umweltschäden hinterlassen. Die ČSFR ist laut einem Weltbankbericht eines der drekkigsten Länder der Welt. 70 Prozent der Gewässer sind verunreinigt, zwei Drittel der Wälder geschädigt. In Polen verursacht die Umweltverschmutzung jährlich Schäden in Höhe von rund drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Planwirtschaften Osteuropas waren nicht nur in ökonomischer, sondern auch in ökologischer Hinsicht erschreckend ineffizient. Noch heute wird weit emmissionsintensiver produziert und konsumiert als in Westeuropa.

Keiner der Konferenzteilnehmer bezweifelt, daß die ökologische Vergangenheitsbewältigung in den postkommunistischen Staaten Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird. Ökologische Aktionsprogramme und ein Ausbau der Umweltschutzgesetzgebung sind zwar erste, hoffnungsvolle Reformschritte, doch droht nach Ansicht vieler osteuropäischer Nichtregierungsorganisationen bereits ein Rollback: In den Staaten werden die wirtschaftlichen Probleme allgemein als dringlicher erachtet; hinzu kommt, daß die Kosten für eine Umweltsanierung zu 90 Prozent von den Ländern selbst getragen werden müssen. Und die haben bekanntlich kein Geld.

Auf der anderen Seite hat die Umweltbewegung in Osteuropa inzwischen ihren einstigen Einfluß und ihre Popularität bei der Bevölkerung eingebüßt. Galten Ende der achtziger Jahre Umweltschäden noch als Indiz dafür, daß die kommunistischen Machthaber die Umwelt zugrunderichteten, so Mara Silina, werden angesichts der heutigen Wirtschaftskrise Umweltgruppen als diejenigen ausgemacht, die Probleme schaffen. Die Leiterin von Greenway, der Dachorganisation der osteuropäischen Umweltverbände, hat eine wachsende Abneigung gegen Umweltengagement überall dort vorgefunden, wo es um staatliche Auflagen und Kontrolle, Arbeitsplätze oder „Symbole des Fortschritts“ wie Autos oder Getränkedosen geht. Wie schwer es ist, den Menschen klarzumachen, daß der Kapitalismus keine Probleme, erst recht nicht die gravierenden Umweltprobleme löst, das haben mittlerweile alle osteuropäischen Umweltschützer erfahren müssen. Obwohl sie das Wissen der westlichen Umweltorganisationen künftig noch stärker für ihre Aktionen nutzen wollen, werden auch hier schnell die Grenzen deutlich: Die Bedingungen in Ost und West sind so verschieden, daß sich der westliche Erfahrungsschatz nicht ohne weiteres auf ihre Arbeit übertragen läßt. „Was wir brauchen“, so formuliert es Mara Silina, „sind Solidarität und Verständnis.“

Ohne Solidarität aus dem Westen geht es nicht, wissen auch die Regierungsvertreter. Die „Öko- Konversion“ der osteuropäischen Volkswirtschaften kann nur gelingen, wenn der Westen massive Hilfe leistet. Zwar haben die EG- Kommission mit ihrem Phare- Programm, die Weltbank, die Osteuropabank (EBRD) und westliche Nachbarstaaten bereits einige Töpfe für Umweltausgaben gefüllt, doch der Anteil ist, im Verhältnis zu den gesamten Osthilfen, noch immer verschwindend gering. Auch gemessen an den geschätzten Sanierungskosten, die in die Billionen gehen, sind die bisher bewilligten Gelder und die von den betroffenen Staaten selbst bereitgestellten Finanzmittel nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Umstritten sind außerdem die mit ausländischen Hilfen verbundenen Auflagen: Zwar müsse das Geld wie „Saatgut“ behandelt werden, aber der Westen solle nicht darüber entscheiden, wofür es eingesetzt wird, argumentieren die Umweltverbände.

John Hontelez, Vorsitzender von „Friends of the Earth International“, ging noch weiter und empfahl den osteuropäischen Umweltgruppen: „Man sollte aufhören, für die Hilfen aus dem Westen dankbar zu sein, sondern Forderungen stellen“.