Statt Klagegesänge eine Statistik

■ Der Tod ist heute eine tabuisierte Privatangelegenheit/ Alte Traditionen verschwunden

Am 14. Oktober und mit 78 Jahren starb Gertrud M. In der Universitätsklinik Berlin. Ihr Leben vor dem Tode war ein jahrzehntelanges Martyrium. Vor 18 Jahren erkrankte sie an der Parkinsonschen Krankheit, der sogenannten Schüttellähmung. Zuerst konnte die ehemalige Lehrerin ihre Hände nicht mehr ruhig halten, dann nicht mehr gehen, zum Schluß zitterte der ganze Körper und der Kopf schwankte hin und her. Sie hatte jegliche Kontrolle über ihren Körper verloren, und nach mehreren Knochenbrüchen wurde sie an einen Rollstuhl gefesselt. Die bunte Palette von Tabletten, täglich 40 Stück, wurde ihr regelrecht den Hals hinunter massiert. Wehren konnte sie sich nicht, denn Gertrud M. hatte nicht nur Schluckbeschwerden, sondern auch ihre Artikulationsfähigkeit durch die fast gelähmten Gesichtsmuskeln verloren.

Als Gertrud M. nach einem Nierenversagen starb, atmete die zahlreiche Verwandtschaft auf. Den Tod als Erlösung vom Leiden hatte ihr jeder gewünscht, bloß jeder für sich und heimlich. Niemals war das lange Sterben von Gertrud M. ein Thema zwischen Ehemann, Kindern oder Enkeln gewesen, nicht miteinander und noch viel weniger mit Gertrud M. Denn der Tod war eine Privatangelegenheit, tabuisiert, obwohl er vor aller Augen stattfand. Vor hundert Jahren wäre das Sterben und der Tod von Gertrud M. als existentieller Aspekt des Lebens nicht aus Bewußtsein und Gesprächen der Angehörigen ausgegrenzt worden. Wesentliche Lebensabschnitte der Menschen des christlichen Abendlandes waren in früheren Jahrhunderten ritualisiert. Diese Ritualisierung bedeutete für die Menschen Stütze und Halt. Die tradierten Sitten um Sterben und Tod haben sich jedoch in der nicht mehr religiös ausgerichteten, pluralistischen Gesellschaft in den urbanisierten Industriestaaten verloren. Jeder Gang über einen Friedhof zeigt dies augenfällig. Es gibt kaum mehr Familiengräber. Friedhofsdenkmäler, die in Vorbereitung auf den eigenen Tod gestaltet sind, gehören zu den seltenen Ausnahmen. Nur in sehr katholischen Gegenden bestimmt der christliche Glaube an die leibliche Auferstehung die individuelle Einstellung zu Sterben und Tod. Der Glaube an die Auferstehung, Kern der christlichen Theologie, gemahnte die Menschen, sich ihrer Vergänglichkeit bewußt zu werden und sich während des Lebens auf den Tod vorzubereiten. Das „Memento mori“, zu deutsch „Gedenke des Todes“, sollte den Menschen leiten, denn der Tod ist gewiß, nur die Todesstunde ungewiß. In den protestantischen Kirchen ist von diesem ewigen Gedenken an die eigene Vergänglichkeit nur der „Totensonntag“, gefeiert am letzten Sonntag des Kirchenjahres, übriggeblieben.

Die Kunst, gut und würdig zu sterben, trotz Krankheit und Verfalls, spiegelt sich in den Sterbebüchern seit dem 15. Jahrhundert wieder. Totentanzdarstellungen, Vanitas-Bilder mit ihrer charakteristischen Ikonographie von Totenschädeln, Sanduhren, heruntergebrannten Kerzen und Seifenblasen waren bildliche Darstellungen von Einkehr und Umkehr. Von den Vorkehrungen nach dem Tod, dem Herrichten und der Aufbahrung der Leiche, von der Vorbereitung zum Begräbnis, dem Leichenzug, der Kirchenfeier, vom Leichenbegängnis, das früher Leichenschmaus hieß, und von der einst rituell festgelegten Trauerzeit ist nichts mehr übriggeblieben, als der Auftrag an ein kommerzielles Pietät-Institut, die Leiche ordnungsgemäß unter die Erde zu bringen. Nicht mehr Theologen sind die Verfasser der Sterbeliteratur, sondern Ärzte und Psychologen, die mit großen Schwierigkeiten Modellprojekte wie die Sterbehospize durchsetzen wollen. Der Terminus „von Beileidsbekundungen bitte absehen“ zeigt, wie privat heute das Ereignis des Todes geworden ist. Die soziale Stellung des Verstorbenen, die früher in kunstvoll ausgearbeiteten Grabdenkmälern aus einheimischen Stein, Holz oder Schmiedeeisen angezeigt wurde, ist den beliebig kombinierbaren Grabmalwaren aus Metall oder ausländischen Hartgesteinen gewichen. Heute sind die Grabmäler nicht mehr Denkmäler, die das Erinnern an einen bestimmten Menschen wachhalten sollen, sondern bescheidene Zeichen, daß hier der und die liegt. Unsere Friedhöfe sind durch das Verschwinden der Todeskultur zu langweiligen Orten geworden, geregelt durch Friedhofsordnungen und Bestattungsrichtlinien.

Die individuelle Verdrängung und Ausgrenzung der Gewißheit des Sterbens, der Verlust des Memento mori und damit im Gleichklang auch der Niedergang der Toten- und Friedhofskultur ist die andere Seite des uns tagtäglich vorgeführten Massentodes. Das Sterben in Sarajevo, die Aids-Toten und Verkehrsopfer sind nicht mehr Menschen, deren Verlust wir spüren wollen, sondern ein mediales Ereignis. Statt Klagegesänge eine Statistik. In Baden-Württemberg hat im Sommer dieses Jahres eine Mutter einen Musterprozeß verloren. Sie wollte vor Gericht erzwingen, daß die Fotografie ihres – von einem Lastwagen überrollten – elfjährigen Sohnes in den Grabstein eingelassen wird. Der Tod ist anoym. Anita Kugler