Müssen Leichen Kinder kriegen?-betr.: "Dürfen Leichen Kinder kriegen?", taz vom 11.11.92

betr.: „Dürfen Leichen Kinder kriegen?“, taz vom 11.11.92

Die „Güterabwägung“ als Orientierungshilfe im Entscheidungsfindungsprozeß ist als solche legitim. Die Art und Weise jedoch, in der der Autor sie in der Diskussion um das „Erlanger Experiment“ instrumentalisiert, ist fragwürdig, da die zugrunde liegenden Kriterien, mit denen hier so selbstverständlich operiert wird, unbewußt oder gezielt, nicht mehr reflektiert werden; damit endet die Argumentation aber bereits dort, wo die „ethische Dimension“ des Problems erst beginnt.

„Das ist sicher schlimm für das Kind, doch das Leben erscheint mir wichtiger.“ Wer oder was ist dieses „Leben“? Es läßt sich nicht, wie hier suggeriert, von der Person des Kindes trennen, sondern bildet mit ihm eine unlösbare Einheit.

Das „Lebensrecht“ oder der „Anspruch, an den Lebensmöglichkeiten und Lebensmitteln der anderen teilzunehmen“, erlischt, sobald das Kind nicht mehr den Qualitätsanforderungen seiner Gönner entspricht, und auch das Absolute des Tötungsverbots erfährt hier wie selbstverständlich seine Einschränkung; es besteht also nicht ein Lebensrecht für alle, sondern vielmehr eine Lebenspflicht bei ausgewogener „Relation zwischen aufgewendeten Mitteln und erzielbarem Erfolg“.

Richtig, die „Ehrfurcht vor dem toten Körper ist keine absolute ethische Forderung“, anders verhält es sich jedoch mit der Ehrfurcht vor der Toten.

Zu den ethischen Fragen, die dieses Experiment aufwirft gehört auch diese: Müssen Leichen Kinder kriegen? Claudia Dell, Berlin

Professor Wuermeling bekennt unverblümt, daß das Menschenleben von Behinderten schutzunwürdig ist (vgl. auch Paragraph 218). Der Satz „...daß eine verkrüppelte Mutter nachher möglicherweise pflegebedürftig überlebt“(!), manifestiert diese Haltung auf herrenmenschenrassistische Weise. Ich bin mir ganz sicher, daß es für das geborene Kind viel wichtiger wäre, überhaupt eine Mutter zu haben, als mit dem Gedanken leben zu müssen, in einer Leiche herangewachsen zu sein! Auch die vorangehende Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit einer Behinderung beim Kind ist eine klare Herabwürdigung aller behinderten Menschen: Die Relation zwischen aufgewendeten Mitteln und erzielbarem Erfolg könnte sich massiv verändern! Das heißt übersetzt: So viel Strom-, Ernährungs-, Personalkosten etc. ist ein behindertes Menschenleben nicht wert!

[...] Wann werden die biologischen „Konservierungsmaßnahmen“ nach der Geburt eingestellt? [...] Vielleicht kann dieser Körper ja noch stillen. Oder ist es am humansten, das geborene Menschenleben zu belügen, seine Mutter sei bei der Geburt gestorben?

Bei der Beantwortung dieser Fragen schaudert mich. Mit dem Lebensrecht ist meines Erachtens ein Recht auf eine lebende Mutter sowie einen menschenwürdigen Tod verbunden – eine menschliche Ethik im Gegensatz zu einer forschungsgeilen Ethik!

Ich kann es einfach nicht fassen, daß Frauen auch unter dem Begriff „Ethik“ – nicht nur in der Paragraph-218-Diskussion – zu Gebärmaschinen degradiert werden! Magdalena Federlin, Aichach

[...] Der Fall der Marion P. ist exemplarisch für die Kluft, die sich im Laufe der Geschichte zwischen Mensch und Ordnung des allgemeinen Lebens in all seinen Bereichen gebildet hat. Mir scheint, als hätte sich der Mensch in seinem Bestreben nach Zivilisation verdinglicht. Erstaunlicherweise sind wir Menschen heute mehr als bereit, uns im Namen der Wissenschaft als Versuchsobjekte zur Verfügung zu stellen beziehungsweise einzelne Menschen oder Minoritäten in wissenschaftliche Experimente hineinzuziehen. Läßt uns der Drang nach Komfort, mit dem wir heutzutage stärker als je zuvor konfrontiert werden, allzu leicht fundamentale Prinzipien unserer Verfassung vergessen? Ist die Würde des Menschen nicht unantastbar?

Durch Rechtsordnung gewährt der Rechtsstaat die Sicherheit seiner Bürger, doch im Fall der Marion P. hat die Gesellschaft vergessen, daß es sich um eine Staatsbürgerin handelt – ein Fall, der auf eine subtile Art und Weise in unserer heutigen Gesellschaft immer noch patriarchal elegant gelöst wird. Jorge Steffen, Berlin