East-Side Gallery wird verbannt

Statt Kunst und Wagenburg Wohn- und Bürohäuser/ Parteienübergreifende Initiative von Abgeordneten will Kunstwerk an den Stadtrand verlegen/ Entscheidung am Donnerstag  ■ Von Anita Kugler

Friedrichshain. „Die Wand muß weichen, wenn der Meteorit der Liebe und Freiheit kommt“, hat die Moskauer Künstleragentur ihr Bild auf der East-Side Gallery übertitelt. Das war im März 1990. Jetzt, zwei Jahre später, droht ein ganz anderer Meteorit die von 118 Künstlern gestaltete Restmauer zwischen Friedrichshain und Kreuzberg zu zertrümmern. Nicht der der Liebe und Freiheit, sondern der der Immobilienspekulanten und ihrer Wasserträger, den politischen Wahlbeamten.

Am kommenden Donnerstag wird das Abgeordnetenhaus über einen Antrag beraten, den etwa fünfzig CDU-SPD-FDP-Abgeordnete bereits unterschrieben haben. Die unter Denkmalschutz stehende East-Side Gallery sollte abgerissen und an anderer Stelle wieder aufgebaut werden, so der Antrag Nr.12/2191. Das 50 Meter breite und 1,3 Kilometer lange Areal mit Hafenblick nach Süden und Schnellstraße im Norden könnte dann einer „Mischnutzung“ zugeführt werden, nämlich zur „Erholung, für Wohnen und für Büros“. So jedenfalls lautet die Vorstellung der beiden Initiatoren des Antrags, des CDU-Abgeordneten Rainer B. Giesel und des Vize-Präsidenten des Abgeordnetenhauses Tino Schwierzina (SPD). Denn das Bauwerk stehe auf wertvollstem innerstädtischen Raum und verhindere wegen seiner enormen Länge eine „sinnvolle städtebauliche Neuordnung“. Zudem sehe das Gelände für die auf dem Hauptbahnhof ankommenden Reisenden „nicht gerade einladend aus“. Unklar sei noch, so Schwierzina, wo die bunten Brocken neu aufgebaut werden könnten, die Wuhlheide sei im Gespräch. Dieser Antrag wird vermutlich am Donnerstag mit großer Mehrheit gutgeheißen werden. Schwierzina hofft auf einen anschließenden städtebaulichen Wettbewerb. Die Vorbereitungen zu dieser „städtebaulichen Neuordnung“ könnten vier, fünf Jahre dauern.

Bodo Ritter, Mitarbeiter der East-Side Gallery, empfindet diese neuesten Vorstellungen zur Stadthygiene als „Katastrophe“. Täglich würden mehr als 50 Reisebusse die Mühlenstraße abfahren und unzählige Touristen die 106 Bilder fotografieren. Er sehe zwar ein, daß die Mauer an dieser Stelle „nicht noch 100 Jahre“ stehen bleiben kann, schlage aber vor, die Mauersegmente am historischen Ort platzsparender in Kareeform aufzustellen. „Wenn man die East- Side Gallery wegräumt, dann wäre es so, als ob es in Berlin niemals eine Mauer gegeben hätte“, sagt er. Die Wuhlheide als Ausweichquartier sei geradezu eine absurde Idee, „dort findet sie doch kein Tourist“.

Höchst ärgerlich über eine Neubebauung wären aber nicht nur die Betreiber der Gallery, sondern auch die Anwohner. Zum Beispiel: Trekker-Becker. Der Mann, der mit Filzhut und wallenden Locken darunter so aussieht wie Rübezahl persönlich, ist einer der 100 Wagenburgler zwischen der ehemaligen Ostmauer und dem Spreeufer. Seit der Vertreibung der Rollheimer aus der Wilhelmstraße im Frühjahr 1990 lebt er hier und fühlt sich wohl. Er ist alter Friedrichshainer, der Standort sei also nicht nur ein aus der Not geborenes Provisorium, sondern „ein Stück Heimat“. Trekker-Becker betreibt seit Jahren ein stadtbekanntes Fuhrunternehmen. Weil man ihm den Führerschein von Amts wegen „gestohlen“ habe, fährt er jetzt seine Bauschuttfuhren nur mit sechs Kilometer pro Stunde durch die Stadt. Dafür braucht man keinen Führerschein. Seine Trecker und Anhänger stehen rund um sein Wohnzimmer, einem winzigen Bauwagen, geteilt in zwei Kämmerchen mit Gästebett. „Wo sollen wir denn hin“, fragt er und streichelt seinen Hund Bello, „wenn die Aktentaschenträger kommen“. Nie und nimmer, glaubt er, würde der Senat hier an der lärmumtosten Mühlenstraße nette Wohnungen für nette kinderreiche Familien bauen. „Das wird doch teuerster Büroraum mit ICC-Anschluß.“ Ein Erholungsgebiet sei die Wagenburg schon lange für Angler, Hundebesitzer und Touristen. „Aber eben kein hauptstadtgeputztes“, sagt er, „sondern Berliner Milieu.“ Als Alternative in eine Zwei-Zimmer-Mietwohnung umzuziehen, könne er sich „niemals“ vorstellen. Das Wohnen ohne Dauerauftrag sei seine „Lebensform“. Der Standort an der Spree sei zwar schön, aber leider nur ein „Provisorium“.

Viele Wagenburgler überlegen deshalb schon seit einiger Zeit, Geld zu sparen und ein innerstädtisches Grundstück für all die bunt bemalten Wohnwagen zu kaufen. 100 Mark pro Quadratmeter sei man bereit anzulegen, aber „leider, leider“ seien bisher noch keine Angebote unter der Telefonnummer Trekker-Becker 3222007 eingelaufen. Die neuesten Ideen der Politiker, das Gelände „sauber zu putzen“, werde er in seiner Wagenburg-Zeitschrift veröffentlichen. Die erscheint handgeschrieben und fotokopiert seit zwei Jahren unregelmäßig und in einer Auflage von 100 Stück. Vielleicht rührt sich dann was, hofft er.