Nur der Kaviar und der Krimsekt fehlten

■ Das Film- und Videofest in Kassel präsentierte Neues aus dem Baltikum

Für Kassel und Umgebung ist das Dokumentar- und Videofest des Filmladens Kassel eine Attraktion. Der Filmladen zählt zu den aktivsten Kinoinitiativen in Deutschland.

Die Programmarbeit brachte ihm wiederholt Bundes- und Landespreise ein, nicht zuletzt aufgrund des seit neun Jahren ausgerichteten Dokumentarfilmfests. Geboten werden eine Woche lang aktuelle Dokumentarfilme aller Genres, darunter viele aus Osteuropa. Zum Programm gehört die Vorführung eines Stummfilms mit Live-Musik-Begleitung.

Zur Eröffnung im Opernhaus gab man den „Panzerkreuzer Potemkin“ mit Edmund Meisels Komposition, gespielt von den Südwestfälischen Philharmonikern unter der Leitung von Mark Andreas, als gesellschaftlichen Höhepunkt, bei dem Krimsekt und Kaviarhäppchen nicht schlecht gepaßt hätten.

Publikumsmagnete waren die Filme Thomas Bauermeisters („1.000 Kraniche muß du falten“, für den er den Hessischen Filmpreis 1992 erhielt) und Helke Sanders („Befreier und Befreite“).

Gäste aus Litauen und Lettland stellten Filme aus dem Baltikum vor, die in der derzeit unsicheren Situation ein historisches Terrain und individuelles Menschenbild für ihre Staaten zu erobern suchen. Geblieben ist eine gewisse Unempfindlichkeit, die der Haltung des Artisten nach seiner Nummer entspricht.

Mit „Die Entscheider“ von Susanne Ofteringer war einer der wenigen Filme zum Thema Asyl zu sehen, die über eine affektive Betroffenheit hinaus Einblicke in das Innenleben deutscher Rechtsstaatlichkeit gewähren. Ofteringer befragte zwei Entscheidungsträger des Bundesamtes, eine Frau und einen Mann, und versuchte, deren persönliche Haltung zu erkunden. Sie porträtiert eine Haltung, nach der Asylgründe nicht darin bestehen, daß andernorts andere Verhältnisse herrschen. Andere Länder, andere Sitten. So werden auch Folter und Hunger zu ethnographischen Merkmalen von Gesellschaften.

Neben den Schwerpunkten Musik und Osteuropa gibt es in Kassel immer wieder auch Filme zu Kunst und Künstlern. Thomas Klinger präsentiert in seinem Porträt von Peter Greenaway ein Ordnungsschema, wie man es auch von Greenaways Zahlenspielereien und dem komplizierten System von Querverweisen in seinen Filmen kennt, gibt sich aber dann der Faszination hin, die mit dem dreiundzwanzigminütigen und für den Film von Greenaway gemachten Film „A Walk Through Prospero's Library“ endet.

Beeindruckender dagegen Romuald Karmakars Dokumentation der Aktion „Demontage IV“ des documenta-Künstlers Flatz. Zwischen zwei Stahlplatten kopfüber aufgehängt, wird Flatz von einem Freund hin und hergeschwenkt. Karmakar zeigt dies erbarmungslos in einer einzigen langen Einstellung. Das Krachen des Stahls gibt erst im Verklingen einen Anflug von Glockenklang. Dann dreht ein Tanzpaar sich zur „Schönen blauen Donau“ von Johann Strauß vor dem ruhig pendelnden Künstler. Das letzte Bild ist „Kreuzabnahme“ und „Wiederauferstehung“. Die beiden anderen Kameras der zweiten Szene kommen mit ins Bild, die Situation wird als eine Inszenierung, dem Schauen und dem Arrangement gewidmet, gezeigt.

Karmakars bis an die „physischen Grenzen führenden“ Filme stellen den ästhetisch radikalsten Pol im Spektrum des Kasseler Dokumentarfilmfests dar. Helke Sanders zeigt am Sonntag ihren Film „Befreier und Befreite“ über Vergewaltigungen während des Zweiten Weltkrieges.

Er wird von Birgit Heins „Unheimliche Frauen“ am Dienstag abend kontrastiert, denn Birgit Hein betont die aggressive, gar dämonisch zerstörerische und aktive Seite von Frauen auch in Kriegshandlungen. Danach kehrt wieder Ruhe ein in Kassel. Helmut Krebs