■ Deutscher Stimmungsextremismus
: Stationen der Verunsicherung

1989, im Jahr der großen Wende, habe ich mit der Neuvereinigung Deutschlands mehr Hoffnungen als Befürchtungen verbunden. Mit einer Reihe anderer post- linker Publizisten wehrte ich mich gegen das Vor-Urteil, mehr Deutschland müsse unbedingt mehr Militarismus, mehr Arroganz und mehr Rassismus bedeuten. Dagegen standen: die Chance des Neuanfangs und die zivil geprägten (West-)Deutschen.

Was uns bei aller Verschiedenheit verband, war und ist die Überzeugung, daß in dieses deutsche Volk Vertrauen setzen muß, wer den Mut zur Demokratie haben will. Volkspädagogische Belagerung und nationaler Selbsthaß waren aus der Geschichte der Bundesrepublik, besonders seit 1968, berüchtigt und als politisch gefährlich bekannt. Seit einiger Zeit häufen sich in Deutschland allerdings die regressiven Tendenzen. Darauf reagierten wir mit verschärfter Kritik an einzelnen Bonner Maßnahmen, nahmen an Demonstrationen teil und ließen schweigend die „Der Schoß ist fruchtbar noch“- Rhetorik über uns ergehen.

Klaus Hartung, dem ich gewöhnlich im großen und ganzen zustimme, schreibt nun in der letzten Ausgabe der Zeit „Wider den linken Alarmismus“. Er sieht in der gängigen linken Behauptung eines flächendeckenden Rechtsrucks den alten Gestus des „Frühwarnsystems“ gegen die stets und ewiglich drohende Gefahr des Faschismus am Werk. Insbesondere bestreitet Hartung einen wirksamen Zusammenhang zwischen der vermeintlichen Revision deutscher Geschichte und rechtsextremer Randale. „Die Defensivkultur hat sich restrukturiert. Es wird wieder gewarnt. Kassandras umschreiten den Horizont kommender Verhängnisse.“ Seine Analyse ist so richtig wie unehrlich. Sie wirkt, als wolle er sich mit der x-ten Widerlegung des linken Reflexes über eigene Irritationen hinwegmogeln.

Tatsächlich gab es doch einige Stationen der Verunsicherung – auch bei der Nach-Linken. Da sind die in die Tausende gehenden Anschläge selbst, die an Deutschland zweifeln lassen. Hinzu kommen die Reaktionen derer, die von Zuwanderung kaum oder gar nicht betroffen sind. Es wird zu viel mitgehetzt in den besseren Kreisen. Am meisten beunruhigt die Asyldebatte der Parteien. Nicht schon die Änderung des Artikel16, über die sich auch vernünftig streiten ließe. Es ist mehr der Eindruck, daß insbesondere die Union meint, ein binnenpolitisches Spiel mit dem Thema treiben zu können, unabhängig davon, wie die Stimmung im Lande sich verschlechtert. Tiefpunkt war hier Kohls Gerede vom „Staatsnotstand“. Besinnen sich die Unionschristen auf das Primat der Republik, wenn es ernst wird? Es ist ernst, und sie besinnen sich mehrheitlich nicht.

Außenpolitisch kann man gleichfalls nicht sicher sein, daß ein starkes Deutschland mit der „gewachsenen Verantwortung“ fertig wird. Genscher ging, und ein sich betont sachlich gebender Kinkel kam. Doch seither macht sich der neue Außenminister Schritt um Schritt zum recht gnadenlosen Treiber. Nicht schon, weil er deutsche Soldaten an Kampfeinsätzen der UNO teilnehmen lassen will. Aber weil er erstmal einen Zerstörer in die Adria schickte, um die Debatte darüber „anzuregen“. An der militärischen Türkeihilfe hielt Kinkel auch noch fest, als unabweisbar wurde, daß deutsche Waffen dazu verwendet werden, die kurdische Minderheit zu unterdrücken. Nicht zuletzt seine Chinareise: Über die Frage, wie sehr Sanktionen dazu beitragen, die Menschenrechte in China zu schützen, mag man ja streiten können. Aber daß nun ausgerechnet ein deutscher Außenminister pauschal die Normalität ausrufen muß...

Nach der Slow-motion-Bauchlandung von Verteidigungsminister Rühe beim Jäger90 gab der jüngst bekannt, „notfalls“ auch ohne Grundgesetzänderung Bundeswehrtruppen in UNO-Kriege schicken zu wollen. Auch das paßt besser ins Bild linker Alarmisten als in das ziviler Hoffnungen. Vor allem vereitelt es die Übung, politische Gegner nicht immer zu entlarven, sondern sie at their best zu interpretieren. Aus dem einfachen Grunde, weil einem keine positiven Erklärungen mehr einfallen.

Das alles rechtfertigt noch nicht, die negativen Indizien als schlagende Beweise zu werten, daraus einen Rechtsruck zu machen und ihn wie „Erdrutsch“ zu intonieren. Alarmismus und Katastrophismus sind falsch. Es gibt Gegenbeispiele – von der Welle der Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien bis zur Demonstration der 700.000 von Berlin, Köln und Bonn. Und es gibt die Pflicht, so tiefgreifende Umwälzungen wie das Ende des Ost- West-Konflikts nicht schon nach drei Jahren abschließend zu beurteilen. Noch läßt sich die These halten: Unter der dünnen Decke der Zivilität schläft nicht der Faschismus. Unter der Decke der alten BRD schläft die Republik.

Man muß kein Linker sein, um besorgt zu sein. Und man muß keiner werden, um der Barbarisierung Deutschlands trotzen zu können. Nur ist die Panik nicht links. Sie ist allgemein. Was wir derzeit erleben, ist ein typisch deutscher Stimmungsextremismus. Den gab es schon in der Friedens- und Ökologiebewegung der 80er. Heute jedoch bestimmt er die Atmosphäre im neuen und größeren Deutschland. Unglücklicherweise befinden wir uns nicht mehr wohlbehütet in der geschlossenen Anstalt der Blockkonfrontation. Deutsche Hysterie verpufft nicht mehr; sie ist in der Lage, geopolitische Beben auszulösen.

Insofern kann Klaus Hartung nicht mehr damit beruhigen, dem herrschenden Alarmismus den Stempel „links“ aufzudrücken. Zumal es bei der intellektuellen Rechten die entsprechende Neigung gibt: Sie sehen eine „Hegemonie der Linken“ in Deutschland und geben sich nicht minder alarmiert. Bedenklich sind beide Tendenzen. Die Linke will die Republik gegen den Faschismus verteidigen und schöpft ihre Kraft aus dieser Defensivaufgabe. Daß Faschismus eine übertriebene Formulierung ist, steigert dabei nur die Emphase. Gleiches gilt für den Versuch rechter Intellektueller, die Nation als Bindeglied zu aktivieren. Daß die Bindungskraft des Nationalen – soweit es um patriotische Pflichten geht – in Deutschland nahe Null ist, macht die Offensive der gemäßigten Rechten irrational. Im hysterisierten Wechselspiel liegt eine Gefahr. Zumal es ein Links-rechts-Schema revitalisiert, das seit 1989 nicht besser, sondern schlechter auf unsere realen Probleme paßt. So wird das Politische als solches sektiererisch. Was in Deutschland so verunsichert, ist, daß Stimmungsextremismus nicht mehr durch die Stabilität der Mitte ausgeglichen werden kann, weil gerade deren Unbeweglichkeit Nährboden der Krise ist. Zum ersten Mal seit 1945 muß die Mitte sich radikal ändern – politisch, ökonomisch, sozial, kulturell –, damit Deutschland stabil bleibt. Politisch hat sie damit angefangen. In allen andern Bereichen steht dies aus.

„Noch immer fehlt uns die Sprache für die Gewalt der Veränderungen in Europa“, schreibt Klaus Hartung. Wir werden sie um so schneller finden, desto mehr wir auf die wirklichen Quellen unserer Verunsicherung hin denken – also nicht mehr von 1968 weg, sondern auf 1989 zu. Bernd Ulrich

Der Autor lebt als Publizist in Köln.