■ Irland vor dem Abtreibungs-Referendum
: Auf dem Sprung ins 20. Jahrhundert

Ein Mitgliedsland der Europäischen Gemeinschaft stimmt heute — im Jahr 1992! — darüber ab, ob Frauen das Recht auf Reisefreiheit haben und ob ihnen Informationen über Abtreibungsmöglichkeiten im Ausland anvertraut werden können. Lebt Irland noch im vergangenen Jahrhundert?

Tatsache ist, daß der Einfluß der katholischen Kirche und ultrarechter Organisationen auch auf der Grünen Insel Schritt für Schritt zurückgedrängt wird. Die selbsternannten „Lebensschützer“ haben deshalb noch einmal alle Kräfte aufgeboten, um eine Liberalisierung der Sozialgesetzgebung zu verhindern. Ihr Kreuzzug begann bereits in den frühen sechziger Jahren. Damals richtete sich die Kampagne gegen die Familienplanungskliniken. Weitere Kampagnen folgten: gegen nichtkirchliche Schulen, gegen Sexualkundeunterricht, gegen die Finanzierung von Beratungsstellen für vergewaltigte Frauen und gegen die Aufhebung des Homosexuellen-Verbots, das der Europäische Gerichtshof vor drei Jahren angeordnet hat. Es gelang den Rechten immer wieder, die politische Instabilität in Irland — Anfang der achtziger Jahre fanden drei Wahlen innerhalb von zwei Jahren statt — durch Androhung einer Massenmobilisierung stets für ihre Sache auszunutzen.

Die Zeiten haben sich jedoch geändert. Selbst die konservativen Politiker lassen sich von der rechten Lobby nicht mehr so leicht erpressen. Die Restriktionen in bezug auf Verhütungsmittel sind in diesem Jahr etwas gelockert worden, das Scheidungsverbot soll im nächsten Jahr per Volksentscheid aufgehoben werden. Darüber hinaus haben Meinungsumfragen Erstaunliches zutage gebracht: 19 Prozent der Befragten traten für eine völlige Freigabe der Abtreibung ein, während nur noch 20 Prozent Abtreibung unter allen Umständen ablehnen. Fällt eine der letzten katholischen Bastionen in Europa?

Tatsache ist aber auch, daß die Abtreibungsdebatte mit dem Referendum erst richtig losgeht. Die Regierung war zu feige, die Frage per Gesetzgebung zu regeln, was durchaus möglich gewesen wäre. Statt dessen hat man der Bevölkerung den schwarzen Peter zugeschoben und wäscht sich die Hände in Unschuld. Der Referendumstext ist frauenverachtend, weil er ausdrücklich erklärt, daß die Gesundheit von Frauen keine Rolle spielt. Es wird also noch eine Weile dauern, bis Irland wirklich den Sprung in dieses Jahrhundert schafft. Bis dahin bleibt Großbritannien aufgrund der gesellschaftlichen Ächtung lediger Mütter in Irland sowie der erbärmlichen sozialen Lage vieler kinderreicher Familien als Sicherheitsventil unentbehrlich: nach konservativen Schätzungen fahren jedes Jahr 5.000 irische Frauen für eine Abtreibung nach England. Ralf Sotscheck, Dublin