Litauen vor dem Machtwechsel

■ Erste Sitzung des „Sejm“ findet am heutigen Mittwoch statt

Vilnius (taz) – Auf Vytautas Landsbergis wartet ein schwerer Tag. Das litauische Parlament, das von nun an nicht mehr „Oberster Sowjet“, sondern „Sejm“ heißen wird, tritt zu seiner ersten konstituierenden Sitzung zusammen, doch der „Vater der litauischen Unabhängigkeit“ kann nicht damit rechnen, daß es ihn zu seinem Präsidenten – und damit auch zum Staatschef – wählen wird. Von 141 Abgeordneten stellt seine rechtskonservative Volksbewegung „Sajudis“ nur dreißig, die „Litauische Demokratische Arbeiterpartei“ (LDAP), die in den beiden Wahlgängen überraschend die absolute Mehrheit erreichte und die bisher nur neun Abgeordnete hatte, entsendet dagegen insgesamt 73 Vertreter ins Parlament.

Der im Ausland gerühmte Politiker hat mit der Parlamentswahl seine bisher schwerste Niederlage eingesteckt. Der 60jährige muß sein Amt als Staatschef an seinen langjährigen Gegenspieler, den ehemaligen Parteichef der litauischen Kommunistischen Partei Algirdas Brazauskas abtreten, genau den Mann, den Landsbergis vor zweieinhalb Jahren, am 11. März 1990, in einer Kampfabstimmung über das Amt des Parlamentspräsidenten schlug.

„Eine Rückkehr zum Kommunismus“ wird es mit der LDAP, die sich als erste kommunistische Partei bereits Ende 1989 unter Führung Brazauskas von der KPdSU löste, jedoch nicht geben. Nach Angaben von Brazauskas sind nur sechs Prozent der Parteimitglieder ehemalige Kommunisten. Dagegen sind jedoch die meisten der neuen LDAP-Abgeordneten ehemalige Mitglieder der Kommunistischen Partei.

Die überraschenden Wahlsieger haben sich mehrfach für eine weitreichende Koalition ausgesprochen, auch einige Minister sollen ihr Amt behalten. Landsbergis wurde der Posten des stellvertretenden Parlamentspräsidenten angeboten, eine Offerte, die er jedoch ausschlagen wird.

Der ausgesprochen populäre Brazauskas will sich vor allem um Ausgewogenheit zwischen der von Landsbergis initiierten konsequent nach Westen orientierten Politik und den weiterhin starken wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Osten bemühen. Brazauskas, der sich des öfteren auf seine guten Kontakte mit der ehemaligen Sowjetunion berief, wird jedoch eine veränderte russische Föderation vorfinden, in der auch die ehemaligen Parteikontakte brachliegen. Der grauhaarige Politiker hat bisher keine persönlichen Kontakte mit dem russischen Präsidenten Boris Jelzin geknüpft, den er nur kurz getroffen hatte, als Jelzin noch Parteichef in Swerdlowsk war. Brazauskas hofft, mit Rußland neue Preise für Rohöllieferungen aushandeln zu können. Seitdem Moskau Weltmarktpreise für Rohöl verlangt, fließt kein Tropfen mehr in die litauische Raffinerie. Gebremst werden sollen die drastischen wirtschaftlichen Reformen der bisherigen Regierung, mit dem internationalen Währungsfonds will die neue Regierung bessere Bedingungen aushandeln. Nur wenige Beobachter glauben jedoch, daß dies gelingen wird. Brazauskas, der auf dem Lande sehr beliebt ist, hofft vor allem, die Landwirtschaft wieder „in Schwung“ bringen zu können. Die radikale Landreform der Sajudis- Regierung hat ein Heer von verarmten Kleinbauern geschaffen, die nicht genug Geld haben, um Benzin für die Traktoren zu kaufen – wenn sie überhaupt einen besitzen.

Die Gegner von Brazauskas, die nun im Parlamentsgebäude ihre Koffer packen, weisen außerdem mahnend darauf hin, daß Brazauskas außenpolitisch noch keine Erfahrungen sammeln konnte: während seiner Amtszeit war Litauen Teil der Sowjetunion.

Die politische Karriere von Vytautas Landsbergis ist vorerst am Ende. Der als ehrgeizig und eigensinnig beschriebene Politiker bereitet sich bereits auf seine neue Aufgabe als Oppositionsführer vor. Doch noch hofft der Mann, der jahrelang der Hoffnungsträger für Litauen war, auf einen Wahlsieg bei den Präsidentschaftswahlen Anfang nächsten Jahres. Matthias Lüfkens