Das Schöne und das Schickliche

„Howard's End“ von James Ivory oder Wie Emma Thompson einen Kostümfilm aus den Angeln hebt  ■ Von Christiane Peitz

Margaret Schlegel stammt aus Deutschland. Ihr Vater war Dichter, seinen Töchtern Margaret, Helen und Sohn Tibby hat er genügend Geld hinterlassen, damit sie in London ein unabhängiges Leben führen können. Margaret ist die älteste, der Familienvorstand, Mittelpunkt und Gastgeberin für literarische Tees mit köstlichem Kuchen, Diskussionszirkel über Frauenemanzipation, Armut und Reichtum oder den Unterschied zwischen Musik und Malerei. Man denkt modern bei den Schlegels.Die Londoner Häuser mit den viktorianischen Fassaden werden abgerissen, für neue, größere Häuser mit Platz für noch mehr Menschen. Eine Großstadt im Umbruch, geschäftiges Treiben auf den verregneten Straßen, der Beginn des 20.Jahrhunderts. Auch das Haus der Schlegels wird bald verschwinden, die Geschwister müssen umziehen.

Emma Thompson ist Margaret Schlegel. Schlank, feine Hände, ebenmäßige Züge. Die Augen, der Mund sind ein bißchen zu groß. Sie spricht gerne und viel, das Debattieren braucht sie wie Essen und Trinken. Wenn jemand etwas Unrechtes sagt, geht ein Ruck durch ihre Gestalt und die Muskeln straffen sich. Sie widerspricht bestimmt, aber verhalten; bevor sie ansetzt, zögert sie kurz. Margaret Schlegel ist ein zivilisiertes, gebändigtes Temperament, nicht so aufbrausend leidenschaftlich wie ihre Schwester Helen. Wenn Helen noch Reden schwingt, hat Margaret bereits gehandelt. Eine Frau der Tat, aber keine Kämpfernatur: alles Spektakuläre ist ihr fremd.

Etwas an ihr ist immer in Bewegung. Wenn sie beunruhigt ist, zieht sie die Augenbrauen hoch, und ihre glatte, hohe Stirn legt sich für Augenblicke in Falten. Wenn sie Kummer hat, preßt sie die Lippen aufeinander, und wenn sie weint, ziehen sich ihre Mundwinkel so weit nach unten, bis ihr Gesicht zur Grimasse entstellt wird. Sie sieht es im Spiegel und schlägt die Hände vor den Mund, bis die Züge sich wieder geglättet haben.

„Nicht schön, noch besonders strahlend“, beschreibt E.M. Forster seine Heldin in „Howard's End“, dem 1910 erschienenen Roman. Emma Thompson ist aufregender als jede klassische Schönheit: eine bezwingende Erscheinung, deren Geheimnis vielleicht darin liegt, daß sie keines hat. Nichts an ihr wirkt inszeniert oder gekünstelt.

Die Eleganz, das sichere Auftreten, die Herzlichkeit verstehen sich von selbst und verbergen doch nicht die Kraft, die es kostet, dem Rest der Welt ungeteilte Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Empfindsamkeit erfordert starke Nerven.

Margaret Schlegel hat die Welt noch nicht begriffen. Immer liegt Staunen in ihrem Blick. Die reichen Wilcoxes auf der anderen Straßenseite beobachtet sie mit der gleichen Neugier wie den mittellosen Büroangestellten Leonard Bast, den das Schicksal ins Haus der Schlegels verschlägt und den Helen seiner poetischen Ader wegen zu ihrem Schützling erklärt. Mit traumwandlerischer Sicherheit und hellwacher Erwartung bewegt sich Margaret zwischen den Welten. Only connect, lautet die Zauberformel von Forsters Roman: Klassenschranken können überwunden werden, man muß nur die Menschen aus den verschiedenen Schichten zusammenbringen.

Margaret Schlegel und Ruth Wilcox: die Fortschrittliche und die Konservative. Ruth Wilcox hat sich zeitlebens als Teil ihrer Familie und Anhängsel ihres Mannes begriffen. Der überraschten Gesprächsrunde teilt sie mit, sie ließe sich an den Wahlurnen lieber von Männern vertreten. Sozialistische Ideen wie in den Diskussionszirkeln der Geschwister sind ihr fremd: In den Augen der Wilcoxes gebührt den Armen bestenfalls Mitleid, der Klassenunterschied gilt ihnen als Naturgesetz. Ruths Unmündigkeit ist Produkt ihres Standes, ihr charakterliches Kostüm das des Reichtums: die tödliche Krankheit verschweigt sie der eigenen Familie, denn solchen Kreisen ist Krankheit ein Greuel. Eine Frau des 19. Jahrhunderts, verkörpert ausgerechnet von Vanessa Redgrave, der rebellischen Schauspielerin. Ein raffiniert verkehrtes Rollenspiel: Vanessa Redgrave trägt Schminke auf, markiert die naive, schwache Frau, manchmal entschieden zu dick.

Die beiden Frauen sind verbunden durch Howard's End, das Landhaus der reichen Ruth mit dem Kastanienbaum, der Garage und dem verwilderten Grundstück. Ein Stück Paradies, ein Ort der Kindheit, Synonym für ein besseres Leben jenseits von London. Als sie sich zu einer spontanen Reise nach Howard's End entschließen, taucht unerwartet Ruths Familie auf und vereitelt den Ausflug. Ruth stirbt und vermacht Margaret Howard's End. Die Wilcoxes vernichten die handschriftliche Notiz: Familienbesitz gehört nicht in fremde Hände. Margaret Schlegel weiß nichts von ihrem Erbe.

Margaret Schlegel und Henry Wilcox: Ein Bösewicht ist Anthony Hopkins diesmal nicht, aber unerbittlich in seinen moralischen und politischen Anschauungen. Ein pflichtbewußter Geschäftsmann, dessen Zuvorkommenheit immer zweckgebunden wirkt. Nicht daß er herzlos wäre, aber so etwas wie private Gefühle sind in seinem Weltbild schlicht nicht eingeplant. Nach dem Tod seiner Frau macht Henry Margaret einen Heiratsantrag. Eine Sekunde lang entgleiten ihre Gesichtszüge, sie faßt sich, entschuldigt sich, verspricht einen Antwortbrief. Sie wahrt seine Umgangsformen, und doch verwandelt sie sie sich an. Als er fragt, ob er jetzt einen Wagen für sie rufen soll, kehrt sie um, bedankt sich noch einmal, küßt ihn vorsichtig. Henry schaut ihr nach, die Hand in die Seite gestützt – eine Besitzerpose. Er wird sich in Margaret verlieben, und manchmal wird seine Korrektheit von jungenhaftem Glück erhellt sein. Anthony Hopkins verzieht dafür keine Miene.

Only connect – die Verbindung zwischen den Schlegels und den Wilcoxes hat es schwer. Die ungestüme Helen wird Henry Wilcox immer wieder mit der Klassenfrage bedrängen und ihre Schwester samt Ehemann mit der Fürsorge für den armen Leonard Bast behelligen: Helena Bonham Carter als Möchtegern-Tragödin. Der Zusammenprall der Welten wird zur Katastrophe führen. Henry Wilcox wird Schwächen zeigen und die Schwächen der andern erbarmungslos strafen. Dem Schicksal jenseits des Geschäftlichen ist er nicht gewachsen. Hilflos sitzt er auf der Wiese vor Howard's End, sein Gesicht hinter vorgehaltener Hand versteckt, aus Scham für sein Versagen. Margaret hilft ihm auf; am Ende wird er ihr die verschwiegene Erbschaft beichten.

James Ivory hat, wie üblich in Zusammenarbeit mit Ismail Merchant (Produktion) und Ruth Prawer Jhabvala (Drehbuch) Forsters quasi sozialistischen Roman aus nachviktorianischer Zeit verfilmt. In den bewährten vornehm ausgestattenen Ivory-Bildern ist jede Einstellung von klassischer Schönheit und romantischer Poesie. Nichts Besonderes eigentlich. Aber Emma Thompson verwandelt die Gediegenheit des Merchant-/Ivory-Stils, ähnlich wie bereits Joanne Woodward in Mr. und Mrs. Bridge. Margaret Schlegel erschüttert Henry Wilcox' Unbeirrbarkeit, Emma Thompson hintertreibt mit ihrer Natürlichkeit die Erlesenheit des Kostümfilms. „Hier sprach“, heißt es im Roman, „wie unlogisch es auch klingen mochte, das Gute, das Schöne, das Wahre im Gegensatz zum Schicklichen, zum Gefälligen, zum Angemessenen... Freilich, als Vorbereitung auf das Kommende war es wenig tauglich.“ Forsters Glaube an eine Verbesserung der Welt mittels Brückenschlag zwischen den Klassen war utopisch, wie wir heute wissen: „Howard's End“ – ein Märchen. Emma Thompson macht es den Zynikern und Realisten schwer.

James Ivory: „Wiedersehen in Howard's End“. Drehbuch: Ruth Prawer Jhabvala. Produktion: Ismail Merchant. Kamera: Tony Pierce- Roberts. Mit Emma Thompson, Anthony Hopkins, Vanessa Redgrave, Helena Bonham Carter. USA 1992, Cinema Scope, 140 Min.