Furcht vor Freizügigkeit der EG

Schweiz: Die Gegner eines Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) argumentieren mit „unkontrollierbarer Zuwanderung“  ■ Aus Zürich Oskar Scheiben

Wenn der Trend sich nicht noch ändert, wird am 6. Dezember 1992 eine Mehrheit der Schweizer StimmbürgerInnen den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ablehnen. Gegen einen Beitrtt zum EWR und später zur EG ist auch ein großer Teil des für den Binnenmarkt produzierenden traditionellen Gewerbes, das bisher von Preisabsprachen (in der Schweiz unterliegen 65 Prozent der Güter Kartellabsprachen) und der Vorzugsbehandlung bei öffentlichen Aufträgen profitiert hat.

Aufgeschreckt von Umfrageergebnissen, die für den 6. Dezember ein Nein der Stimmbürger voraussagen, sind manche Unternehmer jetzt für ein Ja in die Offensive gegangen. So hat beispielsweise das renommierte Elektro- und Maschinenbauunternehmen Asea Brown Boveri Schweiz (ABB) nicht nur ganzseitige Zeitungsinserate einrücken lassen, sondern am Samstag an seinem Stammsitz in Baden bei Zürich auch ein großes Volksfest organisiert.

Im Grunde geht es um zwei unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft des Industriestandortes Schweiz, wie sie idealtypisch durch zwei Unternehmer verkörpert werden: Auf der einen Seite Edwin Somm, Chefmanager der des Schweizer Teils des internationalen Konzerns ABB. Somm sieht für sein Unternehmen trotz hoher Lohnkosten gute Chancen im europäischen Markt, denn er vertraut auf die traditionellen Vorzüge des Standortes Schweiz wie gut ausgebildete und hochmotivierte Fachkräfte. Zu den Vorzügen zählt er ausdrücklich auch den sozialen Frieden und die konstruktive Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften.

Die Gegenfigur ist Christoph Blocher, Bundesparlamentarier der rechtsbürgerlichen Schweizerischen Volkspartei und Inhaber der mittelgroßen Ems-Chemie AG. Als wirtschaftliche Argumente gegen den EWR nennt er eine unkontrollierbare Masseneinwanderung und als Folge sinkende Löhne, steigende Arbeitslosigkeit und einen allgemeinen Zerfall des Wohlstands.

Die Zeit, als die Schweiz mit vorzüglichen Wirtschaftszahlen brillieren konnte, ist ohnehin vorbei. Seit Frühjahr 1991 befindet sich das Land in einer Rezession ohne absehbares Ende. Letztes Jahr ging das Bruttoinlandsprodukt real um 0,1 Prozent zurück, die Investitionen waren sogar um 6,1 Prozent rückläufig. Auch in Sachen stabiler Währung ist die Schweiz kein Musterknabe mehr, 1991 erreichte die Teuerung 6,1 Prozent; sie lag in den letzten Jahren markant über jener der Bundesrepublik, der Niederlande und Österreichs. Die Arbeitslosigkeit hat Werte erreicht, wie sie die Schweizer seit den 30er Jahren nicht mehr erlebt haben.

Gegenwärtig liegt die Quote der registrierten Arbeitslosen bei 3,5 Prozent, bis Mitte 1993 soll sie auf 4,5 Prozent steigen. Nach Expertenmeinung liegt die effektive Arbeitslosigkeit aber um den Faktor 1,7 höher. Diese Zahlen scheinen, verglichen mit deutschen Verhältnissen, nicht besonders hoch, doch die Schweizer Werktätigen sind anderes gewöhnt: Bei den letzten beiden Konjunktureinbrüchen, 1974/75 und 1982/83, wurde die Quote von einem Prozent Arbeitslosen nur knapp überschritten.

Auch die Diskussion um den Beitritt zum EWR ist geprägt von düsteren Prognosen und ungewissen Zukunftsaussichten. Die transnational tätigen Industrieunternehmen haben eine Reihe von Investitionsvorhaben bis zum 6.Dezember auf Eis gelegt; allein im Westschweizer Kanton Wallis sind das rund eine halbe Milliarde Schweizer Franken.

Wettbewerbsnachteile ergäben sich unter anderem bei der Zulassung neuer Produkte und bei öffentlichen Ausschreibungen. In einer Umfrage erklärten 54 Prozent der Unternehmen, sie würden im Falle eines Neins weniger in der Schweiz investieren. Eine Studie der St. Galler Hochschule für Wirtschaftswissenschaften schätzt, daß bei einem Alleingang in der Schweiz bis zum Jahr 2000 insgesamt 93.000 Arbeitsplätze gefährdet wären.

Die modernen, exportorientierten Branchen wie die Chemie, der Maschinenbau und die Elektroindustrie sind daher fast durchwegs für den Beitritt der Schweiz zum EWR. Gleicher Meinung sind auch sämtliche großen Industriegewerkschaften. Ebenfalls für die europäische Integration ausgesprochen haben sich die Großbanken, mit allerdings bescheidenem Engagement. Sie sind nicht ganz glücklich darüber, daß in Sachen Geldwäscherei und Offenlegung der Bilanzen künftig auch für sie die schärferen EG-Bestimmungen gelten werden. Weil sie bereits heute gut im EG-Raum verankert sind, könnten sie auch mit einem Nein der StimmbürgerInnen leben; sie würden in diesem Fall einfach ihre Niederlassungen in London und Luxemburg ausbauen.

Die Gegner des Beitritts lassen die Bürger allerdings im unklaren darüber, wie ein Alleingang der Schweiz in der Praxis aussehen würde. Blocher und seine Mitstreiter erklären lediglich vage, die Schweiz müsse sich die südostasiatischen Länder zum Vorbild nehmen. Was das konkret bedeuten könnte, hat die links-alternative WochenZeitung so beschrieben: „totale Deregulierung, Entmachtung der Gewerkschaften, Ausdünnung der sozialen Netze“. Pikanterweise zahlt ausgerechnet Blocher, der für den Fall eines Beitritts vor Lohndumping und Überflutung durch ausländische Arbeitskräfte warnt, nach Gewerkschaftsangaben seinen Beschäftigten bereits heute 15.000 bis 20.000 Franken Jahreslohn weniger als vergleichbare Unternehmen. Auch beschäftigt er überdurchschnittlich viele Ausländer, darunter eine große Zahl schlecht entlohnter Asylbewerber.