„Halt durch, Erich!“ – es wird ernst

Am fünften Verhandlungstag gegen Erich Honecker ist das Verfahren endlich bis zur Verlesung der Anklageschrift vorgedrungen/ Verzögerung des Verfahrens vorläufig gescheitert  ■ Aus Berlin Matthias Geis

Zu Anfang das unvermeidliche Ritual: „Halt durch, Erich“ – schallt es vor Prozeßbeginn wieder von den Zuschauerbänken im Saal 700 des Berliner Landgerichtes. Die „Erich, Erich“-Rufe der letzten überzeugten DDR-BürgerInnen, die ihren ehemaligen Staatschef auch vor Gericht nicht im Stich lassen wollen, sind als Aufmunterung gedacht. Honecker erhebt sich, wendet sich zu den Zuschauern, würdig und sichtlich erfreut über den Rest an Zuneigung. Honeckers Antwort hat mittlerweile feste Formen: Zuerst zwei Finger ausgestreckt, dann gelöstes Winken mit der ganzen Hand, am Ende, kurz die geballte Faust, nicht kämpferisch, eher weil's halt immer so war. Diejenigen seiner Anhänger, die während der kurzen Szene einen persönlichen Blick ihres Ex- Vormanns erhascht zu haben glauben, geben ihren Erfolg mit um so augeregterem Rufen und Gestikulieren kund. So hat der Prozeß noch für seine entschiedensten Gegner sein Gutes.

Am gestrigen fünften Prozeßtag macht auch die Durchhalteparole Sinn. Honecker und seine verbliebenen drei Mitangeklagten müssen die Verlesung der Anklageschrift duch Oberstaatsanwalt Christoph Schaefgen über sich ergehen lassen. Die 780 Seiten umfassende Anklageschrift ist auf eine 15-Minuten-Fassung komprimiert. Verlesen werden einschlägige Zitate und Zusammenfassungen aus achtzehn Sitzungen des Nationalen Verteidigungsrates, die zwischen 1961 und 89 stattfanden. Aus der Teilnahme an diesen Sitzungen leitet die Staatsanwaltschaft die Verantwortung der Angeklagten für Errichtung, Ausbau und Vollzug des DDR-Grenzregimes her. Konkret wird Honecker die Tötung von 13, Heinz Keßler die Tötung von zehn DDR-Flüchtlingen zur Last gelegt. Die Mitangeklagten Albrecht und Streletz sollen sich des neunfachen Todschlages schuldig gemacht haben.

Honeckers Verantwortung beginnt laut Anklage bereits im August 1961. Damals habe er als SED-Sekretär für Sicherheitsfragen den Bau der Berliner Mauer und der Grenzsperranlagen zur Bundesrepublik angeordnet. Aus dem Protokoll der Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates vom 3. Mai 1974 zitiert Staatsanwalt Schaefgen den Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates, Honecker: „Der pioniermäßige Ausbau der Staatsgrenze muß weiter fortgesetzt werden. Überall muß ein einwandfreies Schußfeld gewährleistet werden. Nach wie vor muß bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden, und es sind die Genossen, die die Schußwaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen. An den jetzigen Bestimmungen wird sich diesbezüglich weder heute noch in Zukunft etwas ändern.“ Unbewegt hört Erich Honecker auf der Anklagebank seinen Einlassungen aus dem Jahre 74 zu. Zitiert wird auch aus Beschluß des NVR vom 14. Juli 1972, an der Grenze zur Bundesrepublik Selbstschußanlagen zu installieren.

Dann folgt die Reihe der Opfer und ihrer gescheiterten Fluchtversuche: Michael-Horst Schmidt, Manfred Mäder, Rene Gross, Michael Bittner und Chris Gueffroy starben durch Schüsse an der Mauer oder der innerdeutschen Grenze. Durch Splitter- oder Erdminen kamen unter anderen Peter Müller, Adolf Malear, Wolfgang Vogler zu Tode.

Mit der Verlesung der Anklageschrift, ist Bewegung in den Honecker-Prozeß gekommen. Der Versuch der Verteidigung, die Verlesung durch weitere Anträge hinauszuzögern, scheiterten. Über den Antrag von Honecker-Verteidiger Nicolas Becker, das Verfahren gegen seinen Mandanten einzustellen, weil dessen völkerrechtlich garantierte Immunität als ehemaliges Staatsoberhaupt eines souveränen Staates fortbestehe, wurde gestern noch nicht entschieden.

Den spektakulären Beginn des fünften Verhandlungstages hatte zuvor der Vertreter der Nebenklage, Rechtsanwalt Ekkehard Plöger, geliefert. Er stellte einen Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter Bräutigam und nutzte die Begründung gleich noch zu einem Rundumschlag: Bräutigam behandele die Angeklagten mitr Glacéhandschuhen und fahre eine „Besänftigungsstrategie ohne Konfliktbereitschaft“. Die Honecker-Verteidigung nutze diese Situation zur fortwährenden Prozeßverzögerung. Dies laufe auf eine „Perpetuierung des Unrechtes“ des untergegangenen Regimes hinaus. Keinen Hehl machte Plöger auch daraus, was von den Angeklagten zu halten sei: Sie „verdienen nicht Mitgefühl, sondern die Verachtung aller“.

Angesichts der Beschleunigung des Verfahrens setzte gestern auch die Honecker-Verteidigung unerwartet auf reibungslosen Ablauf. Sie zog ihren Ablehnungsantrag gegen den medizinischen Gutachter Kirstaedter zurück, um die Untersuchung Honeckers nicht zu verzögern. Ihr Ergebnis allein kann jetzt Honecker noch davor bewahren, daß der Prozeß in seinem Beisein vonstatten geht.