Thema verschenkt

■ Zu einer Veranstaltung über eine aktuelle Angelegenheit

Es hätte so schön, so wichtig sein können: „Antisemitismus und Volksgemeinschaft – zur Pathologie deutscher Konfliktbewältigung“. Doch leider war auf den im TU-Bereich aushängenden Plakaten trauriger Etikettenschwindel betrieben worden. Vielleicht hätte man schon am Beginn der Veranstaltung stutzig werden müssen: Ein paar Studenten drückten jedem Besucher ein eng beschriebenes DINA4-Blatt in die Hände, auf dem die Thesen des Abends schon im voraus als „unwissenschaftlich“ entlarvt wurden. Doch dem naiven Verfasser dieser Zeilen ging noch immer kein Licht auf. Volksgemeinschaft contra moderne Zivilgesellschaft, eine kluge Abrechnung mit dem rechten Gedankengut, mit all den bedrohlichen Atavismen unserer Tage? Denkste. Der Referent der Veranstaltung, FU-Privatdozent Ulrich Enderwitz, sei von einem „kleinen Zirkel“ an der Universität eingeladen worden, um für „ein paar Interessierte linke Theorien zu diskutieren“. Und bitte keine Zwischenfragen während des Vortrags.

Ahnungslos unter eine Sekte geraten, fragte ich mich bald, ob man sich nicht im Datum – Dezember 1992 – geirrt habe. Von Aktualität keine Spur. Statt dessen ein langatmiger Vortrag, gespickt mit jener scheincleveren Vulgärfrage, der man schon im Staatsbürgerkunde-Unterricht der DDR begegnet war: Wem nutzt es? Und die lieben alten Namen flatterten nur so umher: Arbeiterklasse („zur Zeit nicht an einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel interessiert“), Kapital („aggressiv wie eh und je“), Klassenkampf. Und der Staat mittendrin. Und das angebliche Thema des Abends außen vor.

Im Gegenteil: Uralte Verschwörungstheorien wurden wieder aufgewärmt. Der sozialdemokratisch geprägte Volksstaat als der erfolgreiche Versuch des Industriekapitals, die unteren Schichten ruhigzustellen und für sich zu vereinnahmen. Der nächste Schritt sei dann logischerweise die faschistische Volksgemeinschaft. Das verschenkte Thema reizte zu Schreikrämpfen. Denn gerade der Volksgemeinschafts-Gedanke mit seiner Vorstellung von „ethnisch reinen“ Gruppen und seinem Horror vor der Unüberschaubarkeit wabert zur Zeit wieder durchs Land – gegen „die Fremden“. Die Unfähigkeit, die Individualisierung mobiler, arbeitsteilig organisierter Gesellschaften zu ertragen, findet ihren endgültigen Ausdruck in der „nicht-entfremdeten“ Ganzheit kahlköpfiger Mörderbanden und der klammheimlichen Freude der Rechts-Intellektuellen über derartig „vitales Volksempfinden“.

Enderwitz' altlinker Ansatz jagte dann gerade daran zielsicher vorbei. Seine Klassenanalyse, sein Beschreiben ewig linearer Vorgänge befindet sich ebenfalls auf einer Ebene, die den Menschen nur in der Horde erklärbar findet und deshalb als zeitgemäßes Instrumentarium absolut untauglich ist. Wer auf die westlichen Zivilgesellschaften mit immer den gleichen Phrasen eindrischt, bringt sich selbst um die Möglichkeit, ihre Leerstellen human zu besetzen und das bereits Erreichte zu verteidigen. In dem Moment, wo Menschen – die mehr sind als nett geduldete „Mitbürger“ – in diesem Land angezündet oder ermordet werden, ist der Nutzen verquasten Seminar-Geschwätzes sehr schwer zu erkennen.

Um so mehr man sich mit dem Anspruch schmückte, etwas zur aktuellen Thematik zu liefern. Auf dem Weg zu dieser Veranstaltung wurde in der S-Bahn die Freundin eines Kubaners als „Niggerschlampe“ beschimpfte. Bis sich Fahrgäste einmischten und Ruhe erzwangen. Ich sah einen Punker, eine alte Oma und einen smarten Managertypen, der wütend den Wirtschaftsteil der FAZ beiseite legte und bissig bemerkte, daß bei solchen Sprüchen wohl kaum in Deutschland investiert würde. Was wiederum den Punker nervte. Die Oma schüttelte den Kopf, und der Nazi stieg an der nächsten Station aus. Will heißen: keine versöhnte Gemeinschaft und noch weniger eine von statischen Klassenkonflikten geprägte Gesellschaft. Sondern eine verwundbare Demokratie, die gerade jetzt aktiven Zuspruch nötig hätte. Bei Enderwitz aber war davon nichts zu spüren. Marko Martin