■ Scheibengericht
: Heinz Holliger Streichquartett, Die Jahreszeiten, Chaconne

Was das Streichquartett da von sich gibt, klingt wie die komplette Verneinung der klassischen Tugenden. Jedem Ton (Ton?) merkt man Anstrengung an, eine vergebliche Anstrengung. Denn zu mehr als ruppiger Bogenführung, leiernder Intonation, manischem Sägen, verstörtem Klopfen scheint sie nicht zu führen. Neue Musik, so will es die Regel, die sich immer wieder selbst bestätigt, ist schrecklich, weil häßlich und hysterisch. Und das auch noch mit renitentem Vorsatz – wortreich proklamiert und theoretisch untermauert. Es läßt sich aber auch anders deuten: Neue Musik ist so häßlich, weil sie so menschlich ist.

Dafür lassen sich gute Gründe nennen: Musik, sei sie instrumental oder vokal, ist das Resultat von Spieltechniken, von Bewegungen. Bewegungen sind Funktionen des Körpers und somit Ausdruck einer psycho-motorischen Befindlichkeit. Im Idealfall ist jede Bewegung graziös, weil ökonomisch und zielgerichtet, ohne Zittern, Stolpern, ohne Reibungsverlust oder Krampf. Das ist der Zauber des Balletts und – alle Musik ist Tanz – die Brillanz der Virtuosität, jener Choreographie des Instrumentalisten, die zum „schönen Ton“, zum Klangideal führt.

So ist die Welt aber nicht beschaffen, denn die Menschheit, von wenigen Spezialisten abgesehen, kriecht nun mal von der Wiege bis ins Grab. Mit Haltungsschäden, verkrümmt, verkrampft, verkrüppelt. Und eine Kunst, die solches ausdrückt, ist richtig und wahr – und folglich schön. Quod erat demonstrandum.

Schön, schön, diese kleine Abschweifung bedient selbst wieder nur grassierende Klischees und wird der Musik, von der die Rede sein sollte, nicht gerecht. Aber ganz daneben liegt sie vielleicht auch nicht. Heinz Holliger: „Mit meinem Streichquartett näherte ich mich einer Musik, deren klangliche Erscheinung für mich nur von sekundärer Bedeutung war gegenüber dem Fühlbar-, ja Sichtbarmachen der extremen physischen und psychischen Bedingungen, unter denen diese Klänge entstehen.“ Dabei hat die klangliche Erscheinung einiges zu bieten. Die Deformationen des Streicherklangs erweitern die Klangfarbenpalette um eine Fülle an Varianten, die durch die Komposition zu einem charakteristischen Ganzen verbunden sind. Um im Bild zu bleiben: Wodurch zeichnet sich ein interessantes Gesicht aus? Durch die Erfüllung eines Ideals oder durch seine Eigenheiten? Was ist auf Dauer ergiebiger: Hieronymus Boschs Fratzen oder Walt Disneys Cinderella? Ach ja: Heinz Holliger schrieb sein Streichquartett 1973, und das Berner Streichquartett spielt es von der ersten bis zur letzten Note atemlos spannend (und ist auch nicht häßlicher als der Rest der Menschheit).

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