■ Die Moabiter Richter und die Ehre des Angeklagten
: Honeckers letzte Einschätzung

Noch vor einem Jahr schien alles klar: Wo man – im Namen der Opfer – die Kleinen, die Mauerschützen, vor die Schranken der Gerichte holte und aburteilte, da durften die Großen nicht unbehelligt bleiben. Aber merkwürdig: Der Prozeß gegen Erich Honecker und Genossen gilt als langweilig, lästig und ärgerlich. Auch die gestrige, höchst beachtliche Erklärung des ehemaligen Staatsratsvorsitzenden ändert daran wenig. Was verursacht diesen Wandel der Empfindungen?

Zum einen machten es sich die Berliner Staatsanwälte ersichtlich zu einfach, wenn sie in der Anklage schrieben, am 12. August 1961 habe Erich Honecker – und er alleine – den Bau der Mauer angeordnet. Zum anderen, und das ist der wichtigere Punkt, verschatten die deutsche (und auch die europäische) Gegenwart die sogenannte Aufarbeitung des Vergangenen. War die Mauer, so könnte man mittlerweile – klammheimlich – fragen, nicht doch ein zwar häßlicher aber effizienter antifaschistischer Schutzwall? Nicht in dem Sinne, daß sie die DDR vor den westdeutschen Revanchisten geschützt hätte. Aber die Mauer dokumentierte die begrenzte Souveränität, alliierte Kontrolle über beide deutsche Staaten, sie garantierte den europäischen Status quo, und vor allem bewirkte sie eines: Sie schützte die Deutschen vor den Deutschen! Denn mit dem Fall der Mauer trat ein, was Ulrich Hausmann an dieser Stelle am 9. Februar 1990 gegen alle damals überschäumende Bürgerbewegungs- und Vereinigungsduselei prognostizierte: „Auch wenn man die rassistischen und antisemitischen Töne, die aus der DDR herüberschallen und die sich aufs schönste mit der Ausländerfeindlichkeit hier (der alten BRD) aufschaukeln, nur unter Vorbehalt ernst nimmt – es steht zu befürchten, daß die Einheit der beiden deutschen Staaten keine Chance für die Demokratie bringen wird, sondern eine Zerreißprobe. Ich sehe darin rundum Gefahren, und zwar zu allererst die Gefahr einer Zunahme des völkischen Denkens.“

Die Pogrome von Hoyerswerda und Rostock, die Toten von Mölln, der tagtägliche Haß und die rassistische Bosheit zerstören auch die politischen Grundlagen des Honecker-Prozesses. Der dramatische Mangel an Geistesgegenwart und republikanischer Standfestigkeit in den Bonner Regierungsetagen bedeutet eine subkutane aber doch spürbare Delegitimierung dieser Anklage, die sich gegen einen der stursten Verfechter des Status quo ante richtet. Zweifelsohne ist das Strafverfahren gegen Erich Honecker kein einfacher Kriminalprozeß, sondern zwangsläufig ein politischer Prozeß. Deswegen braucht er nicht unbedingt – wie Honecker meint – eine „Farce“ zu sein, aber ein solcher politischer Prozeß erfordert eine gesellschaftliche und demokratische Glaubwürdigkeit, die die Bundesrepublik in diesem Jahr einbüßte – und dies ausgerechnet als Folge der Überwindung der deutschen Teilung, deren Zementierung Gegenstand des Prozesses ist.

Erich Honecker hatte gestern seinen wohl letzten großen öffentlichen Auftritt. Er formulierte mit Ironie, gelassen und selbstsicher, was er – als überzeugter Kommunist – zu seiner Verteidigung zu sagen hat. Er sprach vom Mob, der auf den bundesdeutschen Straßen tobt, von der eilfertigen Verhaftung französischer Juden in Rostock, von den Ermordeten in Mölln und – „am Rande“ – davon, „daß jetzt viele Deutsche sowohl aus dem Westen wie aus dem Osten sich die Mauer wiederwünschen“. „Uns schalt man ,Betonköpfe‘“, so Honecker, „und warf uns Reformunfähigkeit vor. In diesem Prozeß wird demonstriert, wo die Betonköpfe herrschen und wer reformunfähig ist.“ Nicht einmal das Wort „antifaschistischer Schutzwall“ nahm Honecker in den Mund. Er bezeichnete die Mauer als Mauer, machte sich über Kohl und Kinkel lustig, zitierte Franz Josef Strauß als Kronzeugen für die entspannungspolitische Notwendigkeit des Mauerbaus, verwies auf die Beschlüsse des Warschauer Pakts und auf die zwingende Notwendigkeit, im Jahr 1961 die Gefahr eines heißen Krieges zu bannen: mit Hilfe von Beton, Stacheldraht und Schußwaffengebrauch als den äußersten Mitteln im Kalten Krieg – „niemand faßte diesen Entschluß leichten Herzens, er war auch Zeichen einer politischen und wirtschaftlichen Schwäche des Warschauer Vertrages gegenüber der Nato.“

Auch glaubte Honecker offenbar nie so recht an alle antifaschistischen Mythen der alten DDR, die immer auf die Entlastung des berühmt-berüchtigten kleinen deutschen Mannes abhoben. In der Passage über den „unmittelbaren Beginn des Elends der deutschen Geschichte“ im Jahr 1933 rechnete er nicht mit dem „Monopolkapital“, sondern mit den Deutschen ab: „Damals haben bekanntlich sehr viele Deutsche in freien Wahlen die NSDAP gewählt“, später führten nicht in erster Linie Hitler und Himmler, sondern „die kochende Volksseele zur Vertreibung und Ermordung der Juden“. Die Deutschen waren damals in ihrer „Mehrheit glücklich und zufrieden“, 1941 kannte ihre „Begeisterung keine Grenzen“, „die Herzen fast aller Deutschen schlugen für ihren Kanzler“.

Zwar formulierte Honecker dies nicht explizit, doch sind in diesen Einsichten, die sich auch in den Erinnerungen Ulbrichts finden, möglicherweise die Gründe für die fürsorglich-brutale Dauerüberwachung und mißtrauische Gängelung des DDR-Volkes zu suchen.

Viele der gestrigen „Einschätzungen“ des ehemaligen Staatsrats- und Parteivorsitzenden mögen irrig oder halbwahr sein. Doch wird darüber nicht die Justiz, sondern die kritische Zeitgeschichtsforschung der nächsten Jahrzehnte befinden müssen. Dennoch: Erich Honecker nutzte seine Chance. Zum ersten Mal seit Menschengedenken sprach er nicht im vorgestanzten Politkauderwelsch des Marxismus-Leninismus, er redete in allgemeinverständlichem Deutsch, er zeigte, daß er nachgedacht hatte. Er wuchs über das von ihm selbst erzeugte Bild des starrköpfigen Greises hinaus, der nur noch in der Lage zu sein schien, die Faust zum kommunistischen Gruß zu recken. Ironischerweise gelang ihm das nur deshalb, weil die Moabiter Richter und Staatsanwälte ihn mit der Anklage konfrontierten und ihm das einzige für ihn noch existierende öffentliche Forum gaben. Allein das rechtfertigte diesen Strafprozeß bis zum gestrigen Tag. Mit dieser Rede gewann Erich Honecker seine persönliche Ehre zurück. Götz Aly