Neue Eskalation um die Moschee von Ayodhya

■ Indien: Hindus drohen mit dem Bau eines Tempels auf dem Gebiet der Moschee

Indien erlebt eine neue Eskalation im Streit um die Moschee von Ayodhya. Hinduistische Frontorganisationen haben angekündigt, am 6.Dezember auf einer der Moschee vorgelagerten Parzelle mit dem Bau eines Tempels für den Hindu-Gott Ram zu beginnen. Dessen Zentralteil soll später an dem Ort errichtet werden, wo jetzt die Babai-Moschee steht.

Für viele Hindus liegt dort die Geburtsstätte des Gottes und der Standort eines früheren Tempels, den die muslimischen Invasoren vor fünfhundert Jahren abgerissen und durch die Moschee ersetzt haben sollen. Aus allen Gegenden Indiens sind zehntausende Anhänger der Vishwa Hindu Parishad (VHP) unterwegs, um am Sonntag mit Pickeln und Schaufeln ihrer Entschlossenheit Ausdruck zu geben, daß sie den heiligen Ort wieder zurückerobern wollen. Erst vergangene Woche hatte der Oberste Gerichtshof ausdrücklich wiederholt, daß jegliche Bautätigkeit einen schwerwiegenden Rechtsbruch darstellen würde. Das Innenministerium verlieh dieser Warnung Nachdruck, indem es zusätzliche paramilitärische Einheiten nach Ayodhya verlegen ließ. Seit mehreren Tagen stehen in der Umgebung des Städtchens militärische Zeltlager, während die VHP ihre Anhänger in den umliegenden Dörfern und den rund 5.000 Tempeln des Ortes unterbringt.

Im Gegensatz zur Konfrontation vor zwei Jahren, als eine unnachgiebige Polizei auf fanatisierte Pilger stieß, hat das behutsame Vorgehen von Premierminister Rao eine emotionale Eskalation bisher verhindern können. Auch bei den Moslems sind die tiefsitzenden Ängste bisher nicht in Aggression umgeschlagen. Dennoch kann irgendein geringfügiger Anlaß rasch eine Kettenexplosion auslösen. Am Donnerstag begann Berichten von AFP zufolge eine Massenflucht von mehreren hundert Frauen und Kindern aus der Stadt, nachdem Hindus Gräber auf dem Friedhof der moslemischen Gemeinde geschändet hatten.

Mitentscheidend für die Ereignisse der nächsten Tage wird das Verhalten der „Bharatiya Janata Party“ sein. Die BJP ist die größte nationale Oppositionspartei des Landes und stellt im Gliedstaat von Uttar Pradesh die Provinzregierung. Beides verdankt sie der Agitation um den Ram-Tempel von Ayodhya. Als ihr Führer L.K.Advani in einem religiösen Feldzug vor zwei Jahren die damalige Regierung zu einer harten Reaktion provozierte, führte dies zu Gewaltausbrüchen zwischen Hindus und Moslems und bald darauf zum Fall der Regierung von V.P. Singh. In den Wahlen von Mai 1991 konnte dann die BJP in ganz Nordindien große Stimmengewinne und im größten Bundesstaat Uttar Pradesh die Regierungsmehrheit ernten.

Diese Erfolge haben die Partei allerdings auch in ein Dilemma getrieben: einerseits sieht sie in einer hinduistisch-nationalistischen Plattform weiterhin ein beträchtliches Mobilisierungspotential. Da diese aber an die Zerstörung einer religiösen Stätte gebunden ist, stellt es implizit die Souveränität der Verfassung in Frage. Als größte Oppositionspartei des Landes und als Regierungspartei in Uttar Pradesh möchte sie aber ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis stellen, und dies kann sie nur, wenn sie die Verfassung respektiert.

Die BJP riskiert zudem, daß die Regierung in Uttar Pradesh von Delhi mit guten verfassungsrechtlichen Gründen abgesetzt wird, ohne daß sie dafür den erhofften Märtyrerlohn beziehen kann. Die beiden Parteiführer Advani und Joshi versuchen nun, mit viel gedanklicher Akrobatik, gleichzeitig dem Obersten Gericht Gehorsam zu zeigen und den Glauben über die Verfassung zu stellen, um die radikale VHP nicht zum offenen Bruch zu provozieren. Beide Politiker haben sich auf eine Reise durch Uttar Pradesh begeben, um ihre Anhänger dazu zu bewegen, mit Pickeln und Schaufeln nach Ayodhya zu pilgern, diese dort aber nur zum Singen religiöser Lieder einzusetzen. Am 6.Dezember wollen die beiden Zauberlehrlinge selber in Ayodhya sein, in der Absicht wohl, ihre Geister wieder in die Flasche zu locken. Bernard Imhasly